Oma Elsa dampft ab – eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte zum Schmunzeln

Oma Elsa dampft ab – eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte zum Schmunzeln

Lust zu teilen?

Oma Elsa hat keine große Lust auf Weihnachten. Wie alle Jahre wieder erwartet sie ein langweiliges Fest bei ihrem Sohn. Doch dann bietet ihr das Schicksal (oder gar der Weihnachtsmann?) eine Chance, dem all zu entgehen und sie lässt sich nicht zweimal bitten: Oma Elsa dampft ab ins Elsass. Mit einem Unbekannten und einem alten Armeerevolver in der Handtasche.

Der Fahrtwind pustete ihr langes Haar nach hinten, bis es wie eine Flagge im Sturm flatterte. Sie kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, eine Sonnenbrille aufzusetzen, doch die hatte sie zuhause vergessen und keine Zeit gehabt, eine neue zu kaufen. Die Jungs hatten es eilig, wollten vor Mittag ordentlich Strecke machen. Sie spürte, wie ihre Harley vorwärtsdrängte.
»Let’s go!«, jauchzte sie und gab Gas. Plötzlich ruckelte die Maschine, schien auf und ab zu hopsen, wodurch sie sich den Kopf stieß. Elsa stutzte. Wie konnte das sein? Wieso kam ihr Kopf auf freier Strecke mit etwas Hartem in Berührung? Sie hatte doch keinen Unfall gebaut, war nicht gestürzt. Mit der Hand rieb sie sich das schmerzende Körperteil. In dem Moment setzte die Erkenntnis ein: Sie saß nicht auf der Harley, brauste nicht mit den Jungs vom Emscher-Chapter aus Wanne-Eickel über die legendäre Route 66. Dieses, ihr größtes Abenteuer, lag mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Nach vier wilden Wochen in den USA hatte sie der Ernst des Lebens eingeholt: verliebt, verlobt, verheiratet und inzwischen seit neun Jahren verwitwet. Die Tochter hatte ihre Gene geerbt, war nach dem Abi ein paar Monate als Backpackerin kreuz und quer durch Australien getrampt und hatte beschlossen, in Down Under zu bleiben. Zum Glück gab es mittlerweile FaceTime, mit den Enkeln tauschte sich Elsa auf Englisch aus. Ihr Sohn Hans-Peter war dagegen, wie sie insgeheim dachte, ein notorischer Langweiler. Der nur über seinen Beruf – städtische Finanzen – oder sein Hobby – historische Waffen – schwadronieren konnte. Warum ausgerechnet er sich vor ein paar Monaten ein Wohnmobil zugelegt hatte, konnte Elsa bis heute nicht verstehen. In der Natur, fern vom komfortablen Alltagsleben mit allem Luxus zu sein, das passte weder zu ihm noch seiner Frau. Trotzdem gab es keinen Zweifel: Das Wohnmobil existierte. Der beste Beweis dafür war, dass Elsa ausgestreckt im Alkovenbett lag und heftig durchgeschüttelt wurde.


»Himmel Herrgott! Willst du mich umbringen? Kannst du nicht langsamer fahren?«, rief sie erbost.
Ihr Sohn antwortete nicht.
»Was soll das überhaupt?«, entrüstete sich Elsa. »Erst jammerst du mir die Ohren voll, dass du zwei Tage vor Weihnachten im Homeoffice schuften musst, und dann bretterst du ohne vorherige Ankündigung durch die Gegend? Gibst mir nicht mal die Gelegenheit, mich auf den Beifahrersitz zu setzen und mich anzuschnallen. Ich sag dir, wenn das deine Beamtenkollegen von der Polizei mitbekommen, gibt es mächtig Ärger.«
Elsas Sohn schwieg beharrlich. Ihr wurde es zu dumm. Sie rollte auf den Bauch, riss den Stoffvorhang, der den Alkoven abschirmte, mit einem Ruck auf und schrie:
»Halt sofort an, verdammt noch mal!«
Ihre Worte zeigten Wirkung, denn das Wohnmobil kam augenblicklich zum Stehen. So abrupt, dass Elsa auf dem Bett nach vorn katapultiert wurde und nur mit Mühe verhindern konnte, dass sie gegen die Bugwand geschleudert wurde, was ihren in die Jahre gekommenen Knochen sicherlich nicht gutgetan hätte. Sie benötigte ein paar Sekunden, um sich zu fangen, dann krabbelte sie zurück zum Eingang des Alkovens, linste auf den Fahrersitz. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Ihr Sohn, der selbst in seiner Freizeit Wollhosen mit Bügelfalte und knitterfreie Hemden trug, fläzte sich in einer ausgewaschenen Jeans, einem Wollpulli, der am Kragen Fäden zog, und einer in allen Regenbogenfarben schillernden Strickmütze, die er weit über die Ohren gezogen hatte, auf dem Sitz.
»Wie siehst du denn aus?«, rief sie verwundert.
Der Mann wandte den Kopf, starrte sie mit aufgerissenen Augen an, schien genauso entsetzt wie sie.
»Du bist nicht Hans-Peter«, stellte Elsa fest.
Der Mann, der deutlich jünger als ihr Sohn war, schwieg. Sein rechtes Augenlid zuckte nervös.
Elsa setzte sich aufrecht hin. »Wo ist die Leiter? Wo hast du die Leiter hingelegt?«, fragte sie und blickte sich suchend um.
Der Mann blieb ihr eine Antwort schuldig.
»Ich brauche die Leiter, um aus dem Alkoven zu klettern. Damit bin ich ja auch reingekommen.«
Der Mann, der wie Elisa schätze, Anfang zwanzig war, schien wie angewachsen auf dem Fahrersitz.
»Nun hilf mir schon!«, herrschte sie ihn an und hieb mit der Faust so heftig auf das Alkovenbett, dass das Wohnmobil bebte.
Ihre Geste zeigte Wirkung. Der Mann erhob sich, quetschte sich zwischen Fahrer- und Beifahrersitz durch und gelangte in den Wohnraum. Elsa hatte die Leiter inzwischen erspäht.
»Da unter dem Tisch«, wies sie ihn an. »Du musst sie hier an den Metallösen festmachen, damit sie nicht verrutscht.«
Der Mann tat wie ihm geheißen. Elsa schwang vorsichtig die Beine über den Rand des Alkovenbettes und tastete sich langsam, Stufe für Stufe hinunter, bis sie den Wohnmobilboden unter ihren Füßen spürte. Puh, das war geschafft. Sie griff nach ihrer Handtasche, die auf der Sitzbank der Dinette lag und presste sie gegen ihren Brustkorb. Der Mann stand wie zur Salzsäule erstarrt im schmalen Durchgang zwischen dem Tisch und der Küchenzeile. Elsa richtete sich zu ihrer vollen Größe von eins sechzig auf und wies mit dem Zeigefinger auf die Aufbautür.
»Raus mit dir!«

Oma Elsa dampft ab – eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte zum Schmunzeln


Der Mann reagierte nicht, doch sein Gesichtsausdruck hatte sich verdüstert, das Zucken am Auge war stärker geworden. Er schloss die rechte Hand zur Faust, öffnete sie wieder, schloss sie erneut. Wollte er etwa zuschlagen? Elsa wurde mulmig zumute. War er gefährlich? Und wieso befand er sich im Wohnmobil ihres Sohnes? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Was sollte sie tun? Weglaufen? Das würde sie in ihrem Alter nicht mehr schaffen, er hätte sie in wenigen Schritten eingeholt. Außerdem versperrte er den Durchgang. Sie saß in der Falle. Warum war sie nur auf die blöde Idee gekommen, ihr Mittagsschläfchen ausgerechnet im Wohnmobil abzuhalten? Aber das ewige Gebrabbel ihres Sohnes am Telefon und die vorgetäuschte Herzlichkeit der Schwiegertochter waren ihr so auf die Nerven gegangen, dass sie die Flucht ergriffen hatte. Wenigstens zwei, drei Stunden hatte sie ihre Ruhe haben wollen. Der Wohnmobilschlüssel, der auf der Anrichte im Flur lag, war wie eine Einladung gewesen, sie hatte dem Lockruf nicht widerstehen können. Außerdem war es in den letzten Tagen außergewöhnlich warm gewesen, dass sie nicht hatte befürchten müssen, ohne Heizung zu frieren. Das einzige Manko hatte darin bestanden, dass das Bett im Heck mit Kisten und allerlei Kram zugestellt war. Deshalb war Elsa in den Alkoven gekrabbelt, wo sie selig von besseren Zeiten geträumt hatte. Bis sie in einem Alptraum erwachte. Der Mann hob die Faust langsam an. Elsa spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Tu was, verteidige dich, befahl sie sich. Da fiel ihr die Handtasche ein, in der sich das Weihnachtsgeschenk für ihren Sohn befand. Sie vergrub die rechte Hand tief im Tascheninneren, bis sich ihre Finger um einen metallenen Gegenstand schlossen. Der alte Armeerevolver, den sie in einer Schachtel auf dem Dachboden ihrer verstorbenen Freundin gefunden hatte, lag schwer in der Hand. Sie wusste nicht, ob er noch funktionierte, und hatte auch nicht nachgeschaut, ob sich Patronen in der Trommel befanden – diese Aufgabe hatte sie ihrem Sohn zugedacht, der sich damit besser auskannte und über ihren Zufallsfund bestimmt entzückt wäre. Aber nun bekam der Revolver eine andere Bestimmung. Sie zog die Waffe aus der Tasche und richtete den Lauf auf den Mann.
»Hau ab!«, befahl sie und gab sich alle Mühe, dass ihre Stimme so kalt klang, wie das Metall sich in ihrer Hand anfühlte.
Der Mann ließ die Faust sinken, schluckte schwer. »Oh Gott, bitte nicht schießen, nicht schießen«, stammelte er und wirkte plötzlich wie ein kleiner eingeschüchterter Junge. Etwas von der Angst, die Elsa eben noch verspürt hatte, ebbte augenblicklich ab. Das war kein Schläger, kein Killer. Niemand, der es auf alte wehrlose Frauen abgesehen hatte. Der Mann war leichenblass geworden, machte den Eindruck, als müsste er sich jeden Moment übergeben. Elsa senkte den Lauf.
»Was wolltest du im Wohnmobil meines Sohnes? Es klauen?«
Der junge Mann nickte, hielt die Augen auf den Boden gesenkt. »Die Tür war nur angelehnt. Und der Schlüssel lag auf dem Tisch«, murmelte er.
»Kein Grund, sich an fremdem Eigentum zu vergreifen.«
»Ich dachte, ich steig ein und bin in 30 Sekunden verschwunden.«
»Und dann war da eine Alte im Weg.« Elsa lachte bitter auf. »Warum wolltest du mit dem Wohnmobil abhauen? Wegen des Geldes? Wolltest du es verscherbeln?«
»Ja.« Die Stimme des Mannes klang rau. »Ich wollte rüber nach Frankreich. Ein Kumpel von mir hat gesagt, da würde man solch hochklassige Fahrzeuge ruckzuck loswerden.«
»Hast du so was schon mal gemacht?«
Der junge Mann schüttelte heftig den Kopf, wodurch seine Mütze ins Rutschen kam. Elsa sah wie sich braune weiche Locken um seine Ohren, die vor Aufregung glühten, kringelten. Sie seufzte auf. Na prima! Was für eine Weihnachtsüberraschung! Sie war in die Fänge eines Möchte-gern-Gangsters geraten, der kaum die Schulbank verlassen hatte. Wie sollte es nun weitergehen? Sie konnte ihn doch nicht einfach laufen lassen und damit Anschubhilfe für seine kriminelle Karriere leisten. Sollte sie die Polizei rufen? Oder ihren Sohn? Der war immerhin Beamter. Ein pedantischer, selbstgerechter Staatsdiener, der schon bei ihrer Ankunft am Hauptbahnhof verkündet hatte, dass er tolle Neuigkeiten für sie hätte. Dass sie sich um ihre Zukunft keine Sorgen machten müsste, wenn sie nur den Vertrag unterschriebe. Elsa wusste, was ihr drohte. Seit Wochen überlegte sie, wie sie das vermeintlich Unabwendbare abwenden könnte. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie griff wieder fester nach der Waffe, hob den Lauf um ein paar Zentimeter.
»Du setzt dich jetzt auf den Fahrersitz und ich mich daneben«, befahl sie und machte mit der Waffe eine auffordernde Bewegung in Richtung des Fahrerhauses. »Und dann machen wir beide eine Spritztour nach Frankreich.«
Dem jungen Mann klappte die Kinnlade hinunter. »Wir beide? Nach Frankreich?«
»Ich wollte schon immer zu Weihnachten ins Elsass. Und viel Zeit bleibt mir nicht mehr. Wenn nicht jetzt, wann dann? Also los, auf geht’s!«
Der junge Mann startete den Motor und das Wohnmobil setzte sich langsam in Bewegung.
»Allez hopp, drück mal auf die Tube!«, ermunterte ihn Elsa. »Mein Sohn wundert sich sicherlich schon, wo ich abgeblieben bin, und wird nach mir schauen. Du willst doch auch nicht, dass er uns erwischt.«
Das Wohnmobil nahm schnell an Fahrt auf. Elsa grinste zufrieden vor sich hin. Weihnachten würde ganz anders verlaufen, als sie gedacht hatte. Statt windelweich gekochter Rosenkohl, staubtrockene Gänsekeule und Mineralwasser ohne Kohlensäure warteten Champagner, Austern, Leberpastete und Baguette auf sie.
»Vive la France«, rief sie und klopfte ihrem Reisepartner aufmunternd auf die Schulter.

Oma Elsa dampft ab – eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte zum Schmunzeln

»Da vorn ist die Grenze«, verkündete der junge Mann, der ihr noch immer nicht seinen Namen verraten hatte.
Elsas Kopf ruckte hoch, sie war kurz eingenickt. »Kein Problem, es gibt keine Kontrollen mehr«, antwortete sie.
»Doch. Wegen der vielen Flüchtlinge.« Ihrem Reisebegleiter war anzusehen, dass er sich unwohl fühlte. »Die werden uns bestimmt anhalten. Und nach den Papieren des Wohnmobils fragen. Die wir nicht haben.«
Elsa richtete sich gerade im Sitz auf. »Lass mich mal machen.«
Der junge Mann hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. Elsa konnte ihm ansehen, dass er am liebsten aus dem Wohnmobil gesprungen und abgehauen wäre. Aber das würde sie ihm nicht durchgehen lassen. Sie zog den Revolver kurz aus der Tasche hervor. »Keine Fisimatenten«, warnte sie. »Ich regele das.«
Sie reihten sich in die Schlange der wartenden Fahrzeuge, die meisten davon mit deutschem Kennzeichen, ein. Es ging nur im Schneckentempo vorwärts, die französischen Zöllner führten tatsächlich Kontrollen durch. Ein schwarzer Mercedes Kombi wurde heraus gewunken. Der Kiefer des jungen Mannes malmte vor Anspannung.
»Hast du deinen Personalausweis dabei?«, wollte Elsa wissen.
»Ja, im Portemonnaie.«
»Stehst du auf irgendeiner Fahndungsliste? Ich meine, wirst du polizeilich gesucht?«
»Nein«, versicherte ihr der junge Mann.
»Na, dann wird schon nichts schiefgehen«, verkündete Elsa im Brustton der Überzeugung.


Sie hatten den Checkpoint erreicht und ein ernst dreinschauender Zollbeamte wies sie mit einer Handbewegung an, die Scheibe herunterzulassen. Elsa setzte ein, wie sie hoffte, gewinnendes Omalächeln auf, ließ die falschen Zähne blitzen. »Bonjour Monsieur«, flötete sie. »Danke, dass sie diesen tollen Job hier für uns machen. Für unsere Sicherheit sorgen. Da fahre ich mit einem ganz anderen Gefühl nach Frankreich. Ich fühle mich beschützt und geborgen. Das ist wirklich nett von Ihnen und Ihren Kollegen. Gerade als alte Frau, die nicht mehr gut auf den Beinen ist, weiß ich das zu schätzen. Ich könnte mir vorstellen, dass es Ihrer Großmutter ähnlich geht, oder?«
Der Zöllner wirkte durch Elsas Redeschwall ein wenig geplättet. »Oui, kann sein, ist möglich«, murmelte er.
Elsa beugte sich, so weit es mit dem Sicherheitsgurt ging, nach links, um dem Beamten näher zu kommen, tat, als wollte sie ihm ein Geheimnis verraten. »Wissen Sie, mein Enkel und ich wollen zum Weihnachtsmarkt. Die französischen Weihnachtsmärkte sind viel schöner als die Deutschen.«
»Sie wollen nach Wissembourg?«
Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte Elsa sich bis dahin null Gedanken über ihren Zielort gemacht, hatte einfach die Fahrt und das Gefühl genossen, den Fängen ihres Sohnes entkommen zu sein. Aber Wissembourg, wo immer das auch sein mochte, hörte sich gut an.
»Oui, oui, Wissembourg«, bestätigte sie. »Wir wollen ein bisschen einkaufen, lecker Essen gehen und danach ein, zwei Gläschen Champagner trinken. Deshalb sind wir mit dem Wohnmobil gekommen, da können wir vor Ort übernachten und am nächsten Tag in aller Ruhe ausschlafen. Mein Enkel und ich haben nämlich was zu feiern. Nicht wahr, mein Häschen?«
Die Ohren des jungen Mannes, der während der Fahrt seine Mütze abgenommen hatte, waren rot wie der Mantel des Weihnachtsmannes. Er brachte nicht mehr als ein schwaches Nicken zustande.
»Bei Fremden ist er immer ein bisschen schüchtern«, sagte Elsa mit einem Augenzwinkern. »Aber er hat das Abi mit einer Eins gemacht und gerade eine wichtige Aufnahmeprüfung bestanden. Aus ihm wird mal ein ganz Großer. Ich sag Ihnen, ich könnte vor Stolz platzen. Haben Sie auch Kinder?«
»Eine Tochter. Lebt in Paris«, erwiderte der Zollbeamte schmallippig.
»Kinder sind das größte Geschenk«, zirpte Elsa.
Der Zöllner trat einen Schritt zurück und signalisierte mit einem Handzeichen, dass sie weiterfahren durften. »Einen guten Aufenthalt in Frankreich.«
»Frohe Weihnachten, Monsieur«, rief Elsa und winkte zum Abschied. Das Wohnmobil setzte sich ruckelnd in Bewegung. »Bau jetzt bloß keinen Unfall«, raunte Elsa ihrem Fahrer zu. »Noch so einen Auftritt lege ich so schnell nicht hin. Ich bin total unterzuckert, habe seit heute früh nichts gegessen und getrunken. Außerdem muss ich auf die Toilette. Sieh zu, dass du außer Sichtweite der Grenze einen Parkplatz findest, wo wir anhalten können.«

Da die Möglichkeiten zum Parken auf der kurvenreichen Straße begrenzt waren, musste Elsa warten, bis ein großer Supermarkt auf der rechten Straßenseite auftauchte. Der sah zwar sehr modern aus und war der Jahreszeit entsprechend festlich herausgeputzt, doch Elsa erinnerte sich an einen Familienurlaub vor vier Jahrzehnten auf einem französischen Campingplatz und beschloss, es mit der eigenen Bordtoilette zu versuchen. Ihr Sohn hatte am Vorabend erwähnt, dass er das Wohnmobil reisefertig gemacht hatte, weil er und seine Frau beabsichtigten, zwischen den Jahren zu einem Thermalbad zu fahren. Wellness nach dem Weihnachtsstress, hatte es die Schwiegertochter genannt. Elsa wusste, dass sie in Wirklichkeit »Wellness nach dem Schwiegermutterbesuch« gemeint hatte. Am liebsten wäre sie direkt nach ihrer Ankunft in Stuttgart wieder in den nächsten Zug zurück nach Hause gestiegen, doch sie wollte das angespannte Verhältnis zu ihrem Sohn nicht noch weiter belasten. Zumindest nicht zu Weihnachten. Im neuen Jahr würde sie Nägel mit Köpfen machen. Vorausgesetzt, es geschähe ein kleines Wunder. Elsa seufzte leise. Sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben, sie müsste eine Lösung finden, die anders aussähe als die, die ihr Sohn ins Auge gefasst hatte. Aber alles der Reihe nach. Im Moment hatte das Drängen ihrer Blase Vorrang. Sie wandte sich an den jungen Mann:
»Du, mein Freund, gehst jetzt nach draußen und wartest, bis ich fertig bin. Danach kaufen wir gemeinsam im Supermarkt ein, du hast bestimmt auch Hunger.«
»Habe ich«, gab er kleinlaut zu.
Etwas an seinem Gesichtsausdruck veranlasste Elsa zu folgender Warnung: »Komm bloß nicht auf die Idee, mich hier mit dem Wohnmobil allein zurückzulassen. Ich bin seit Jahren nicht mehr Auto gefahren, ich kriege das Ding nicht von der Stelle bewegt. Solltest du den Versuch unternehmen abzuhauen, schreie ich den ganzen Parkplatz zusammen und behaupte, dass du mich ausrauben wolltest. Gehe ich recht in der Annahme, dass du Weihnachten nicht in einem französischen Knast verbringen möchtest?«
»Ich bleibe vor der Tür stehen«, versprach der junge Mann hoch und heilig.
Elsa tat, was sie tun musste und stellte erfreut fest, dass sogar die Wasserspülung funktionierte. Eigentlich eine feine Angelegenheit, so ein Wohnmobil, dachte sie anerkennend. Das eigene Zuhause war immer mit dabei. Sie ließ sich von ihrem Reisebegleiter die beiden Trittstufen an der Aufbautür hinunterhelfen, dann schritten sie zum Supermarkteingang.
»Ich habe vor ein paar Wochen eine kleine Erbschaft gemacht, deshalb kann ich es mir zu Weihnachten endlich mal gutgehen lassen«, verkündete Elsa und begann, französische Leckereien in den Einkaufswagen zu laden.

»Ich bin pappsatt.« Elsa wischte sich die Lippen an einer Papierserviette ab, die sie beim Geschirr im Küchenoberschrank gefunden hatte. Ihr Reisebegleiter bestrich ein weiteres Stück Baguette dick mit Butter und legte eine Scheibe Camembert darauf. Er schien total ausgehungert. Elsa spürte, wie Mitleid in ihr aufflammte. Der junge, schmale und schlaksige Mann, der ihr gegenübersaß, war kein Krimineller, der mit gestohlenen Fahrzeugen oder sonstigem Diebesgut dealte. Dazu war er viel zu ungeschickt. Und zu ängstlich. Ließ sich von einer Zweiundachtzigjährigen mit einem Revolver, der fast genauso alt sein musste, in Schach halten. Ein Profi hätte ihren Bluff sofort bemerkt, hätte sich ihrer längst entledigt und wäre über alle Berge. Wer war er? Und warum hatte er das Wohnmobil stehlen wollen? Elsa beschloss, der Sache nun ein für alle Mal auf den Grund zu gehen.
»Wir haben einander noch nicht vorgestellt«, sagte sie mit einem einladenden Lächeln. »Ich bin Elisabeth. Elisabeth Hülsbeck, aber eigentlich nennen mich alle Elsa. Das darfst du auch. Verrätst du mir endlich, wie du heißt?«
»Macht ja wohl keinen Sinn, wenn ich weiter schweige«, antwortete der junge Mann, nachdem er aufgekaut hatte. »Aus der Nummer komme ich sowieso nicht mehr raus.«
»Ach, das wird alles nicht so heiß gegessen wie gekocht«, beruhigte ihn Elsa. »Bis jetzt ist ja, außer dass wir eine Spritztour mit dem Wohnmobil unternommen haben, nichts passiert.«
»Dein Sohn wird sich Sorgen machen. Womöglich hat er schon die Polizei alarmiert.«
»Ach was, der sitzt am Schreibtisch und ist in seine Akten vertieft«, widersprach Elsa. »Ich gehe fest davon aus, dass er mein Verschwinden noch gar nicht bemerkt hat. Und meine Schwiegertochter ist froh, dass sie mich für ein paar Stunden los ist. Da kann sie ungestört mit ihren Freundinnen telefonieren. Apropos.« Elsa fischte ihr Handy aus der Handtasche, warf einen Blick darauf. »Wie ich dachte, kein verpasster Anruf. Mein Sohn hat nicht versucht, mich zu erreichen. Der wird erst misstrauisch, wenn ich nicht zum Abendessen erscheine. Aber zurück zu meiner eigentlichen Frage. Wer bist du?«
»Maik«, sagte der junge Mann. »Maik Schmitt. Ich bin in Darmstadt geboren und dort zur Schule gegangen, werde demnächst in Stuttgart studieren. Jura«, fügte er mit sehnsuchtsvoller Stimme hinzu. »Das war immer mein Traum, ich möchte später Staatsanwalt werden.«
»Wenn du das Wohnmobil tatsächlich geklaut hättest, wäre dein Traum ausgeträumt gewesen, bevor du auch nur einen Fuß in die Uni gesetzt hättest.«
»Ich weiß«, räumte Maik verlegen ein. »War eine blöde Idee von mir, ich hab ganz spontan gehandelt. Weißt du, ich hatte mich heftig mit meiner Freundin gezofft und bin einfach losgelaufen, wollte weg, mich abreagieren. Und dann stand da plötzlich dieses Wohnmobil auf dem Parkstreifen und die Tür war nur angelehnt. Mir schossen die Worte meines Kumpels durch den Kopf. Der Gedanke, dass damit all meine Sorgen wenigstens fürs Erste vorbei wären, war zu verlockend. Ich hab mich auf den Fahrersitz gesetzt, den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt … Okay, den Rest kennst du ja.«


Elsa nickte. Sie zog eine Zigarette aus der Schachtel, die sie im Supermarkt gekauft hatte, steckte sie zwischen die Lippen und zündete sie mit dem ebenfalls frisch erworbenen Einwegfeuerzeug an. Beim ersten Zug musste sie husten, der zweite war himmlisch. Sie blies den Rauch genüsslich gegen die Decke.
»Wenn mein Sohn mich hier so sehen könnte, würde er mich umbringen«, kicherte sie, öffnete jedoch das Seitenfenster, damit der Qualm abzog. »Ich hab schon seit Jahren nicht mehr geraucht, mein Sohn hat mir ständig in den Ohren gelegen, ich solle damit aufhören.«
»Nun ja, besonders gut für die Gesundheit ist es nicht«, wandte Maik ein.
»Zu Weihnachten darf ich mal eine Ausnahme machen. Außerdem kommt es in meinem Alter eh kaum darauf an. Ich weiß, dass meine Zeit hier auf Erden begrenzt ist. Deshalb will ich noch Spaß haben, am Leben teilnehmen, solange es eben geht.«
»Bist du krank?« Maik schaute sie besorgt an.
»Ach was, nur ein paar Wehwehchen, die sich im Laufe der Jahre halt so einstellen. Nichts Ernstes, so bald werde ich den Löffel nicht abgeben. Auch wenn meine Schwiegertochter sich das bestimmt heimlich wünscht. Wir waren schon immer ziemlich beste Feinde.«
»Und dann verbringst du Weihnachten mit ihr? Und deinem Sohn, dem noch nicht einmal auffällt, dass du nicht bei ihm unterm Tannenbaum sitzt?«
»Der Baum wird erst am Vierundzwanzigsten aufgestellt.« Elsa nahm einen weiteren Zug von der Zigarette. »Und am Morgen des Siebenundzwanzigsten prompt wieder abgeschmückt, in drei Teile zerlegt und auf den Speicher verbannt. Bei meinem Sohn gibt es nur eine Plastiktanne, ein echter Baum würde zu sehr schmutzen, die Wohnung in Unordnung bringen.«
»Wir hatten früher immer eine mit roten Kugeln und echten Kerzen geschmückte Nordmanntanne«, erinnerte sich Maik und sah für einen Moment ganz verträumt aus. Dann wurde er wieder traurig.
»Und in diesem Jahr?«, fragte Elsa sanft.
»Gibt es keinen Baum und auch keine richtige Familie mehr.« Maik seufzte bedrückt. »Meine Mutter hat einen neuen Partner, den ich kaum kenne, sie verbringen die Feiertage auf Mallorca. Mein Vater ist vor vier Jahren gestorben. Herzinfarkt.« Maik schaute bedeutungsvoll auf die Zigarette. Elsa nahm einen letzten Zug und drückte den Stummel auf dem Teller aus. »Und deine Freundin? Mit der du gestritten hast?«
»Will mit ihrer Familie feiern, wie in jedem Jahr.«
»Bist du nicht eingeladen? Bist du deswegen sauer?«
»Nein, das ist es nicht. Es geht um was anderes.«
»Nämlich?«
»Ist so ein Gefühl von mir«, druckste Maik herum und schnippte einen Baguettekrümel vom Tisch.
»Möchtest du Heiligabend lieber allein mit deiner Freundin sein?« Elsa ließ nicht locker.
»Ja.« Maik nickte. »Nicht, weil ich ihre Familie nicht mag«, beeilte er sich klarzustellen. »Aber es sind so viele. Da kommt die ganze Sippschaft zusammen: Oma und Opa von beiden Seiten, der Patenonkel und die Patentante, ihre Brüder mit Familie, ein Onkel aus Übersee und Tante Fanny. Die gehört zwar nicht zur Verwandtschaft, ist aber jedes Jahr mit eingeladen. Die Eltern meiner Freundin haben ein großes Haus, da mangelt es nicht an Platz, auch nicht am Festtisch.«
»Ich sehe nicht, wo das Problem liegt«, bemerkte Elsa. »Das hört sich eigentlich sehr nett an.«
»Ja, die sind alle total nett. So nett, dass jeder von ihnen mir ein Geschenk überreicht. Und da kann ich doch nicht mit leeren Händen dastehen. Aber woher soll ich das Geld für die vielen Geschenke nehmen? Ich bin gerade mit der Ausbildung fertig und muss jeden Cent fürs Studium sparen. Wenn ich für alle was kaufe, bin ich pleite.«
»Ich verstehe. Da wäre dir das Geld für den Verkauf des Wohnmobils schon gelegen gekommen«, meinte Elsa. »Obwohl du unter der Hand deutlich weniger bekommen hättest als den offiziellen Marktpreis.«
»Das Geld hätte all meine Probleme gelöst. Ich hätte die Geschenke bezahlen und nach den Feiertagen mit meiner Freundin in den Skiurlaub fahren können. Sie will unbedingt, dass ich mitkomme, ihre ganze Clique hat sich in den Bergen verabredet. Aber Skifahren ist teuer und ich habe keine Ausrüstung.«
»Hm, du steckst wirklich in einer verzwickten Situation«, musste Elsa eingestehen. »Doch ich weiß nicht, wie ich dir helfen könnte. So groß ist die Erbschaft nicht, die mir meine Freundin hinterlassen hat. Und mir ist die Wohnung, in der ich seit über 20 Jahren wohne, gekündigt worden. Ende Januar muss ich raus und ich habe bis jetzt nichts Neues gefunden. Die Wohnungen, die derzeit inseriert werden, sind für mich viel zu teuer.«
»Na, da hast du es im Moment ja auch nicht leicht«, sagte Maik mitfühlend. »Das mit der Wohnung kann ich nachvollziehen, ich suche ebenfalls gerade eine Unterkunft fürs Studium. Eine Katastrophe! Selbst für das mickrigste Zimmer wollen sie ein Vermögen. Wahrscheinlich bleibt mir nur eine einzige Möglichkeit, aber die ist mir, ehrlich gesagt, ziemlich unangenehm.«
In dem Moment klingelte Elsas Handy. Sie sah die auf dem Display angezeigte Nummer und verzog den Mund, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen.
»Mein Sohn.«
»Auweia, jetzt gibt’s Ärger.« Maik wirkte eingeschüchtert.


Für einen Moment erwog Elsa, den Anruf nicht entgegenzunehmen, doch der unablässige Klingelton ging ihr auf die Nerven und sie wusste, dass sie ihrem Sohn Rede und Antwort stehen musste. Sie führte das Handy kurz ans Ohr und zuckte mit der Hand sofort ein paar Zentimeter zurück, weil ein verbales Donnerwetter auf sie einprasselte.
»Wo ich bin?«, wiederholte sie nach zwei, drei Minuten und schaute aus dem Fenster. »Das kann ich dir nicht so genau sagen. Irgendwo im nördlichen Elsass, wir sind auf dem Weg nach Wissembourg
»Wer »wir« sind?« – »Ein Freund und ich, wir haben uns zufällig in Stuttgart getroffen.« – »Warum ich dir nichts gesagt habe? Du warst beschäftigt, die Arbeit, wie du mir ständig zu verstehen gegeben hast.« – »Ob ich zum Abendessen wieder da bin?« Elsa schaute aus dem Fenster. Allmählich brach die Dämmerung herein. An den Weihnachtsbäumen, die vor dem Supermarkt und auf dem Parkplatz aufgestellt worden waren, flammten die ersten Lichtlein auf. Aus einem Lautsprecher erklang französische Weihnachtsmusik. Die meisten Leute, die in den Supermarkt eilten, hatten ein Lächeln auf den Lippen. Elsa fasste einen Entschluss. »Nein, ich werde heute Abend nicht nach Stuttgart zurückkommen. Ich übernachte im Elsass.«
Ihr Sohn reagierte mit einem Wortschwall, der Elsa Kopfschmerzen bereitete. Doch sie ließ sich nicht einschüchtern.
»Ich bleibe. Basta. Noch bin ich Herrin über meine eigenen Entscheidungen.«
Für einen Augenblick war es am Telefon still. Dann ertönte die Stimme ihres Sohnes wieder, wenn auch eine Spur sanfter, fast flehentlich.
»Nein, du wirst mich nicht umstimmen«, unterbrach ihn Elsa. »Spar dir deine Mühe und deine Worte. Und Ingrid wird froh sein, dass sie mich einen Abend, vielleicht sogar zwei nicht bekochen muss.«
Der Tonfall ihres Sohnes wurde erneut lauter.
»Womit ich überhaupt unterwegs bin?«, wiederholte Elsa. »Na mit deinem Wohnmobil. Das habe ich mir kurz ausgeliehen. Zu Heiligabend bekommst du es zurück, damit ihr nach den Feiertagen pünktlich in den Urlaub starten könnt.«
Ihr Sohn explodierte förmlich am Telefon. Maik, der jedes Wort mithören konnte, wurde immer blasser. Elsa blieb die Ruhe selbst.
»Schluss jetzt!«, herrschte sie ihren Sohn an. »Deinem Wohnmobil wird nichts passieren und mir auch nicht. Sag mir lieber, was ich beachten muss, wenn wir darin übernachten. Ich will nichts kaputtmachen.«
Elsa wartete. Zuerst schwieg ihr Sohn, dann reagierte er anders, als sie es sich erhofft hatte.
»Du drohst mir mit der Polizei? Willst deine eigene Mutter festnehmen lassen?«
Maik starrte sie über den Tisch mit vor Schreck aufgerissenen Augen an.
Elsa lachte kurz auf. »Mein lieber Hans-Peter, das würde ich nicht tun«, warnte sie leise. »Sonst müsste ich gleich im Anschluss an unsere kleine Diskussion ein ernstes Gespräch mit Ingrid führen. Ich nehme an, sie weiß nicht, dass du gern am Aktienmarkt zockst und dass dein Vater und ich dir schon öfter aus der Patsche haben helfen müssen. Weil du sonst womöglich deinen Beamtenstatus verloren hättest.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte für zwei, drei Minuten Funkstille. Dann nahm ihr Sohn das Gespräch wieder auf. Elsa hob die Hand und machte das Daumen-hoch-Zeichen.
»Na also, geht doch«, flüsterte sie Maik zu.

»Zum Wohl!« Die Tassen klackten leise, als Maik und Elsa damit anstießen.
»Mmh, himmlisch! Allein dafür hat sich der ganze Ärger gelohnt.« Elsa nahm noch einen Schluck vom Glühwein.
»Schmeckt total anders als bei uns in Deutschland«, sagte Maik, der seine kunterbunte Mütze wieder über die Locken gezogen hatte.
»Die nette Dame am Verkaufsstand hat mir erklärt, dass der Vin chaud hier aus elsässischen Rebsorten gemacht wird. Und er ist weiß«, antwortete Elsa. Sie standen vor einer der zahlreichen hölzernen Weihnachtsbuden, die rund um die Abteikirche St. Peter und Paul aufgebaut worden waren. In den mittelalterlichen Gassen von Wissembourg herrschte reges Treiben, der Duft von gebrannten Mandeln, heißer, mit Karamell verfeinerter Schokolade und anderen Weihnachtsleckereien lag in der Luft. »Wir müssen gleich unbedingt einen Flammkuchen probieren, ich habe seit Ewigkeiten keinen mehr gegessen«, sagte Elsa.
»Ich kenne ihn nur aus dem Tiefkühlregal«, antwortete Maik. »Frisch gemacht ist er bestimmt viel besser.«
»Und im Wohnmobil trinken wir zur Verdauung noch einen Quetsch. Gut, dass ich die Flasche Zwetschgenwasser im Supermarktregal entdeckt habe. Den mochte mein Mann immer so gern. In unserer Jugend waren wir öfter im Elsass, meistens in Straßburg. Aber dann kamen die Kinder, der Job nahm uns beide in Anspruch und als die Kinder aus dem Haus waren, klopften bei meinem Günter die ersten Krankheiten an. Den Kampf gegen den Krebs hat er letztlich verloren.«
»Das tut mir leid.«
Elsa zuckte mit den Schultern. »Ich vermisse ihn noch immer, aber es ist, wie es ist. Das Leben muss ja weitergehen, man kann nicht den Kopf in den Sand stecken. Ich will die Zeit nutzen, die mir bleibt. Und ich möchte mehr Abenteuer wie dieses hier erleben. Obwohl das alles«, sie wies mit der Hand in die Runde, »nicht geplant war.«
»So hatte ich mir mein Wohnmobilabenteuer auch nicht vorgestellt«, stimmte Maik zu. »Trotzdem gut, dass du deinen Sohn beruhigen konntest und er uns auf die Schnelle die vielen Tipps gegeben hat. Ein Freund von mir hatte einen Bulli, mit dem wir am Wochenende von Darmstadt aus manchmal unterwegs waren, aber so ein ausgewachsenes Wohnmobil ist dann doch was anderes.«
»Also ich könnte mich daran gewöhnen, auf diese Art zu reisen. Allerdings brauchte ich einen Chauffeur, der mich durch die Lande kutschiert.«
»Da lässt sich vielleicht was machen.« Maik grinste verschmitzt. »Immerhin hast du mich davor bewahrt, ins kriminelle Milieu abzurutschen. Da bin ich dir was schuldig.«
»Oh ja, das bist du, Herr zukünftiger Staatsanwalt.« Elsa prostete ihm erneut mit der Tasse zu.


Maik war wieder ernst geworden. »Ich habe, nachdem wir auf den Stellplatz gefahren sind, ebenfalls telefoniert. Mit meiner Freundin und Tante Fanny.«
»Hast du dich mit deiner Freundin versöhnt?«
»Fürs Erste ja. Aber wir müssen dringend miteinander reden, nicht nur am Telefon. Auch darüber, wie das mit meinem Umzug von Darmstadt nach Stuttgart funktionieren soll. Ob ich mir ein Zimmer nehme oder ob wir doch zusammenziehen. Dabei würde dann Tante Fanny ins Spiel kommen.«
»Inwiefern?«
»Tante Fanny heißt mit richtigem Namen Francesca Gasparini und stammt ursprünglich aus Mailand. Ihre Familie betrieb lange Jahre eine Reihe von Restaurants in Süddeutschland, da hat sie auch die Eltern meiner Freundin kennengelernt. Sie steuert zum Weihnachtsessen immer Panettone bei. Meine Freundin freut sich schon seit Wochen darauf, das Weihnachtsbrot schmeckt herrlich, das Highlight des Festessens.«
Elsa runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht so recht, was das mit deinem Umzug zu tun hat.«
»Tante Fanny hat ein großes Haus, in dem sie sechs Kinder großgezogen hat. Die sind alle schon lange flügge, die Zimmer stehen leer. Bis vor Kurzem hat sie ihre pflegebedürftige Mutter betreut, doch die ist im September gestorben. Jetzt ist Tante Fanny ganz allein im Haus und ihr wird das alles zu viel. Weshalb sie überlegt, ob es nicht besser wäre, das Haus zu verkaufen.« Maik schaute Elsa über den Rand seiner Glühweintasse an.
Elsa hob abwehrend die Hände. »Da muss ich dich enttäuschen, so hoch ist meine Erbschaft nicht und meine Rente reicht gerade zum Leben.«
»Meine Freundin hat vor Kurzem, eigentlich nur so zum Spaß gemeint, dass Tante Fanny eine WG gründen soll. Raum genug hätte sie ja. Zuerst hat Tante Fanny über den Vorschlag gelacht. Inzwischen findet sie es wohl nicht mehr so abwegig, mit ein paar Leuten zusammenzuwohnen. Vorausgesetzt, die Chemie stimmt.«
»Heißt das, dass du dort einziehen willst?«
»Ich weiß nicht.« Maik kaute nachdenklich auf der Unterlippe. »Eigentlich möchte ich lieber mein eigenes Ding machen, unabhängig bleiben. Aber meine Freundin ist plötzlich ganz versessen darauf, dass wir beide bei Tante Fanny unterkommen. Wahrscheinlich auch, weil sie dann deutlich mehr Freiheiten als bei ihren Eltern hätte.«
»Was spricht von deiner Seite dagegen?«
»Also nicht Tante Fanny, sie ist total locker, sieht vieles gelassener als die meisten in ihrem Alter. Aber wenn ich die Miete, die sie von mir verlangen würde, abrechne, bleibt mir kaum was zum Leben. Meine Freundin kennt keine Geldsorgen, ihre Eltern haben ein gutgehendes Geschäft, sind sehr spendabel. Ich möchte meiner Freundin nicht auf der Tasche liegen. Ich werde mir sowieso neben dem Studium einen Job suchen müssen, anders wird es nicht gehen.«
»Hm.« Elsa klang nachdenklich. »Diese Tante Fanny scheint ja auch nicht mehr die Jüngste zu sein. Da wäre sie bestimmt froh, jemanden bei sich wohnen zu haben, der ihr mit dem Haus und Garten helfen kann. Bist du handwerklich geschickt?«
Maik nickte. »Ja, ich habe schon immer gern gebastelt.«
»Super! Dann ist doch alles klar!«, rief Elsa begeistert.
Maik schien ihre Zuversicht nicht zu teilen. »So einfach ist es nicht. Es müssen noch viele Dinge geklärt werden, auch zwischen mir und meiner Freundin. Und die WG wird nur funktionieren, wenn ein paar mehr Leute mitmachen. Schade, dass du nicht in Stuttgart wohnst. Könntest du dir vorstellen, dahin umzuziehen?«
Ich? So nah bei meinem Sohn? Nie und nimmer schoss es Elsa durch den Kopf. Der raubt mir alle Freiheiten, steckt mich im Nullkommanichts in eine Seniorenwohnanlage. Den Mietvertrag für ein Zimmer hat er ja schon prüfen lassen. Nein, nur über meine Leiche. Sie straffte die Schultern.
»Wir haben doch festgestellt, dass wir ein gutes Team sind.« Maik erwärmte sich sichtlich für die Idee. »Und ich brauche jemanden wie dich an meiner Seite. Jemand, der darauf achtet, dass ich keine weiteren Dummheiten wie die von eben mache.« Er schenkte ihr ein Augenzwinkern. »Denk wenigstens darüber nach.«
»Puh! Was für ein Tag!« Elsa rieb sich die Stirn. »Eigentlich wollte ich nur ein Mittagsschläfchen halten. Jetzt stehe ich auf einem französischen Weihnachtsmarkt und du schlägst vor, dass ich mein ganzes Leben umkrempele.«
»Du sollst nur den Wohnsitz wechseln«, widersprach Maik. »Ansonsten bleib bitte, wie du bist. Du hast das Herz genau auf dem richtigen Fleck. Jeder andere hätte sofort die Polizei gerufen und noch applaudiert, wenn ich in Handschellen abgeführt worden wäre.«
»Ach, ich weiß nicht, du übertreibst«, tat Elsa verlegen ab.
»Wenn du bei Tante Fanny mit einziehst, könnten wir noch mehr Wohnmobiltouren unternehmen, uns einen Camper mieten. Meine Freundin kommt bestimmt auch gern mit. Sie ist so ein Naturfreak, will ständig draußen sein. Und dann könnte sie sich endlich ihren Herzenswunsch erfüllen: Seit Jahren möchte sie einen Hund, aber ihre Mutter hat eine Tierhaarallergie. Magst du Hunde?«
»Oh ja.« Elsa nickte. »Aber meine Wohnung liegt mitten in der Stadt, da würde sich ein Hund nicht wohlfühlen. Viel zu wenig Grün. Und ich bin nicht mehr so gut zu Fuß.«
»Tante Fanny hat einen großen Garten, der von einer Mauer umgeben ist. Da wäre ein Hund kein Problem. Du könntest dich um ihn kümmern, während wir in der Uni sind, abends gehen wir dann mit ihm spazieren. Und im Wohnmobil käme er natürlich auch mit, da hätten wir gleich eine Alarmanlage auf vier Pfoten.« Aus Maik sprudelten die Ideen nur so hervor.
»Stopp, stopp«, bremste ihn Elsa. »Ich habe doch noch gar nicht zugesagt. Erst muss ich diese Tante Fanny kennenlernen und mir das Haus anschauen. Ob das für meine alten Knochen geeignet ist. Und deine Freundin hat bei der Angelegenheit auch mehr als ein Wörtchen mitzureden.«
»Die ist einverstanden«, versicherte ihr Maik. »Du wirst sie mögen.«
Elsa leerte ihre Tasse in einem Zug. »Also gut. Wir fahren morgen zurück und dann stellst du mich Tante Fanny vor.«
»Geht klar.«
»Und jetzt schauen wir, wo wir einen Flammkuchen bekommen. Mit viel Käse und Speck«, forderte Elsa. »Beim Essen machen wir eine Liste mit Reisezielen, die wir erkunden wollen. Ich war schon ewig nicht mehr an der Ostsee. Und was hältst du von Paris?«
»Von mir aus auch New York.«
»Das geht nicht. So ein Flug ist nichts für den Hund«, widersprach Elsa mit einem schelmischen Grinsen.
»Heißt das ja?«
»Ja – unter gewissen Umständen.«
»Mann, ich glaub, ich werde verrückt.« Maik strahlte über beide Backen.
»Ich bin es offensichtlich schon länger«, meinte Elsa. »Aber es fühlt sich verdammt gut an.«

Oma Elsa dampft ab – eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte zum Schmunzeln

Mit unserer diesjährigen Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte wünschen wir allen Wohnmobilfreundinnen und Wohnmobilfreunden, unseren Leserinnen und Lesern sowie allen lieben Menschen, die wir unterwegs auf Reisen oder während der Messen getroffen haben ein fröhliches Weihnachtsfest, einen guten gesunden Rutsch und einen tollen Start ins neue Reisejahr 2025.

Oma Elsa dampft ab – eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte zum Schmunzeln

Fotos mit Dank von Pixabay & Unsplash (u.a. Drew Dau, Josh Jarrison, Louis Magnotti, Marek Konopnic, Olena Bohovyk, Shannon Henriks, Toa Heftiba, Mel Poole, Stephan H).

Lust zu teilen?

5 Gedanken zu „Oma Elsa dampft ab – eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte zum Schmunzeln

  1. Liebe Yvonne und lieber Martin,
    Ich hoffe, Ihr seid ebenfalls gut ins neue Jahr gekommen, wofür ich euch alles erdenklich Gute und Schöne wünsche.
    Ja, ich bin mir sicher, dass Oma Elsa noch wunderschöne Jahre und vor allem tolle Wohnmobiltouren mit Ersatzenkeln und Hund vor sich hat. Wer weiß, vielleicht trefft ihr sie ja irgendwann in Schweden, haltet die Augen offen. 🙂
    Wünsche euch eine gute Zeit und viel Erfolg bei allen euren neuen und aufregenden Plänen.
    Herzlichst aus dem Odenwald.
    Heike + Wolfdietrich

  2. Liebe Heike, nun habe ich es auch endlich geschafft die Weihnachtsgeschichte zu lesen.
    Echt schön und jeder kann die Geschichte für sich selbst weiterschreiben.
    Ganz herzlichen Dank dafür.
    Wir wünschen euch noch alles Gute für das neue Jahr.
    LG Yvonne und Hans-Peter aus Stuttgart.

  3. Liebe Heike, habe es nun geschafft die Weihnachtsgeschichte zu lesen.
    Echt super, war mit auf dem Weihnachtsmarkt und das Ende ist für gedanklich für jedens Phantasie offen. Ganz lieben Dank und noch alles Gute für das neue Jahr.
    Herzliche Grüße aus Schweden senden Yvonne und HaPe

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert