Austern zum Fest – Eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte aus Frankreich

Austern zum Fest – Eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte aus Frankreich

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Zwei Freundinnen, die sich aus den Augen verloren hatten und die das Schicksal wieder vereint … Eine spontane Reise zur französischen Sommebucht … Ein Einbruch in den Campervan … Und ein unerwarteter Besucher, der mit Austern und anderen Delikatessen das Fest rettet … Viel Spaß beim Lesen meiner diesjährigen Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte “Austern zum Fest” … Und Joyeux Noël, frohe Weihnachten an alle meine Leserinnen und Leser.

Austern zum Fest- Eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte aus Frankreich

»Aua!«

Sandra schnellte herum und funkelte den vermeintlich unachtsamen Idioten, der ihr den Einkaufswagen in die Hacken gerammt hatte, wütend an.

»Tut mir leid, ich war ganz in Gedanken«, erwiderte die Schuldige und wandte den Blick zu Boden.

Sandra stutze. »Ulli? Ulli Kaufmann? Bist du es wirklich?« Sandra konnte es kaum fassen.

Die Frau, die Sandra ebenfalls erkannt zu haben schien, nickte.

»Das gibt es doch nicht. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?« Sandra war ganz aus dem Häuschen. Die schmerzhafte Kollision mit dem Einkaufswagen war vergessen. »Zehn Jahre?«

»Ich glaube, es sind eher zwölf. Oder fünfzehn.« Ullis Stimme war leise. Fast so, als ob sie nicht gehört werden wollte.

»Seit wann bis du denn wieder in Duisburg? Ich dachte, du wärest in Leipzig. Hattest du beim letzten Klassentreffen, an dem wir beide teilgenommen hatten, nicht gesagt, dass dein Mann dort einen Job angenommen hat?«

»Ja, das hat er auch. Er hat in dieser Softwarefirma richtig Karriere gemacht. Aber ich …« Ulli verstummte.

Sandra musterte das blasse und eingefallene Gesicht der Schulfreundin und ahnte nichts Gutes. »Du bist ohne deinen Mann in die alte Heimat zurückgekehrt?«

»Ja. Ich wollte näher bei meinem Sohn wohnen. Doch der will mich auch nicht bei sich haben. Und dann kam noch die blöde Krankheit.« Ullis Antwort war lediglich ein Flüstern.

Sandra reagierte instinktiv, so wie sie es meistens tat. »Komm, wir lassen unsere Einkaufswagen für einen Moment stehen und gehen zusammen einen Kaffee trinken. Am Eingang der Einkaufspassage ist dieses nette kleine Café. Dort gibt es total leckeren Marzipanstollen. Ich gönne mir in der Adventszeit immer mal wieder ein Stück davon.«

»Ich weiß nicht.« Ulli zögerte.

»Hast du einen Termin? Oder musst du zu deinem Job?«

»Nein. Ich habe heute nichts Dringendes zu erledigen.«

»Prima. Dann steht unserem gemeinsamen Kaffeetrinken nichts im Weg«, stellte Sandra fest und fasste die Schulfreundin sanft, aber bestimmt am Arm. »Wir haben uns sicherlich eine Menge zu erzählen.«

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»Ach du lieber Himmel! Du bist in den letzten Jahren ja schlimm vom Schicksal gebeutelt worden«, sagte Sandra mitfühlend, als sie die erste Tasse Cappuccino getrunken und gerade eine zweite bestellt hatte.

»Der Onkologe hat mir versichert, dass es von nun an wieder aufwärtsgeht. Dass ich die besten Jahre meines Lebens noch vor mir habe«, antwortete Ulli. »Aber wie soll das funktionieren? Ohne meinen Mann, meine Familie und einen richtigen Job? Und in vier Tagen ist Weihnachten. Mir graut davor. So ganz allein. Ich habe es bis jetzt noch nicht einmal fertiggebracht, die Wohnung zu schmücken. Am liebsten würde ich mich unter der Bettdecke verkriechen und die Feiertage verschlafen. Oder weit wegfahren. Irgendwohin, wo mich nichts an Weihnachten erinnert.«

»Hm.« Sandra spielte gedankenverloren mit dem Kaffeelöffel. Dann setzte sie ein breites Lächeln auf. »Also das mit dem Wegfahren, das könnte klappen.«

»Wie meinst du das?« Ulli schaute sie entgeistert an.

»Mein Bruder hat einen Bulli, so einen VW-Bus, den er zum Wohnmobil ausgebaut hat. Mit dem ist er früher zum Surfen an den Atlantik oder zum Skifahren in die Alpen gefahren. Aber seitdem er mit seiner neuen Lebensgefährtin zusammen ist, nutzt er ihn kaum noch. Seine Freundin steht mehr auf Luxusurlaub im Hotel mit all-inclusive. Ich bin mir sicher: Wenn ich meinen Bruder ganz nett frage und ihm drei, vier Flaschen guten Bordeauxwein spendiere, leiht er mir den Bus über die Feiertage. Du und ich, wir machen den Tank und den Kühlschrank voll und hauen einfach ab.«

»Nein, auf keinen Fall. Das geht doch nicht.«

»Wieso nicht?« Sandra spürte, wie die Idee sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte und ihre spontanen Reisepläne konkrete Formen annahmen. »Was spricht dagegen?«

Ulli rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Wir haben uns seit Ewigkeiten nicht gesehen. Wir wissen doch eigentlich nichts mehr voneinander.«

»Blödsinn!«, rief Sandra so laut aus, dass sich ein paar der anderen Gäste nach ihnen umdrehten. »Du warst in der Schule meine beste Freundin. Wir waren mal fast so vertraut wie Schwestern. Bis unsere Lebenswege in verschiedene Richtungen gegangen sind. Da haben wir uns aus den Augen verloren, haben nicht mehr mitbekommen, wie es dem anderen geht. Doch über die Feiertage werden wir die Zeit haben, das Versäumte nachzuholen. Wenn wir wollen, können wir nächtelang quatschen. So wie früher.«

»Was ist denn mit deiner Familie? Willst du Weihnachten nicht mit deiner Familie verbringen?«, wunderte sich Ulli.

Sandra hob die rechte Hand in die Höhe. »Was siehst du da?«

»Deine Hand. Sonst nichts.« Ulli klang verunsichert.

»Eben.« Sandra nickte zustimmend. »Meinen Ehering habe ich vor drei Jahren abgenommen. Und seit anderthalb Jahren bin ich geschieden. Glücklich geschieden«, fügte sie mit Nachdruck hinzu.

»Das freut mich für dich. Aber ich weiß nicht …« Ulli senkte den Blick und schaute eindringlich auf den Milchschaum ihres Cappuccinos, so als ob sie in den weißen Bläschen die Lösung für ihr seelisches Dilemma ablesen könnte. Schließlich atmete sie tief durch und straffte die Schultern. »Nein, es geht nicht. Es wäre der pure Wahnsinn. Das können wir nicht machen.«

»Quatsch.« Sandra konnte Ullis Zweifel nicht nachvollziehen. »Immer nur zu zögern und zu zaudern, tagelang das Für und Wider abzuwägen, bis es letztendlich zu spät ist, das bringt nix. Ich sehe es so: Ab übermorgen habe ich zwei Wochen frei. Und ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als mir mit dir zusammen zu Weihnachten ein bisschen Meerwind um die Nase wehen zu lassen.«

»Du willst ans Meer?« Ulli wirkte wie ein verschrecktes Kaninchen. »Da wären wir von hier aus doch ewig unterwegs.«

»Mit dem Bulli sollten wir es über die holländischen und belgischen Autobahnen in fünf bis sechs Stunden schaffen.«

»Wo willst du hin?«

»Lass dich überraschen«, erwiderte Sandra mit einem Augenzwinkern. »Und vergiss nicht, Gummistiefel einzupacken. Ich habe große Lust, mal wieder ein paar selbst gesammelte Muscheln zu essen.«

»Du bist total verrückt.« Ullis Gesicht war noch eine Spur blasser geworden, war jetzt fast so weiß wie der Puderzucker auf der Oberfläche ihres Weihnachtsstollens, den sie nicht angerührt hatte.

Sandra tätschelte die Hand der Schulfreundin. »Das Leben ist zu kurz, um immer nur vernünftig zu sein. Das solltest gerade du inzwischen am besten wissen.«

»Ich wünsche dir eine gute Reise«, sagte Ulli mit Tränen in den Augen und stand auf. »Wir können im neuen Jahr ja mal telefonieren.« Sie fischte einen Kugelschreiber aus der Handtasche und notierte ihre Nummer auf der Papierserviette.

»Feigling«, sagte Sandra und sah zu, wie sich die Freundin mit gebeugten Schultern entfernte. Dann zog sie den Teller mit dem Stollen zu sich und verputzte gut gelaunt das Weihnachtsgebäck. Sie verspürte nicht die geringste Absicht, so schnell aufzugeben.

Austern zum Fest - eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte aus Frankreich

»Ich kann nichts sehen«, beklagte sich Ulli vier Tage später und schaute angestrengt durch die Seitenscheibe in die Dunkelheit.

»Der Stellplatz müsste da vorn liegen«, sagte Sandra und schaltete das Fernlicht ein. »Ja, da in der Lücke zwischen den beiden Dünenausläufern ist die Einfahrt. Noch so wie früher.« Sie drückte vorsichtig auf das Gaspedal und der Bulli ruckelte die mit Schlaglöchern übersäte Schotterpiste entlang, schwankte dabei wie ein Schiff im Sturm.

»Und du bist dir ganz sicher, dass das der Ort ist, an dem du mit deinem Exmann und dem Leih-Wohnmobil warst? Der dir damals so gut gefallen hatte?« Ulli klang skeptisch.

»Ja, zum Glück scheint sich wenigstens in der Hinsicht nicht viel verändert zu haben. Auf die Begleitung von Stefan kann ich dagegen gut verzichten. Ich bin ja so froh, dass ich dich noch umstimmen konnte.« Sandra legte ihre Hand kurz auf das Knie der Freundin. »Ich habe mich gleich beim ersten Mal in die Weite der Bucht und den kleinen Ort verliebt. Du wirst sehen, wir werden hier herrliche Feiertage verbringen. Hör doch mal, wie das Meer rauscht!«

»Es ist so düster hier. Und wir sind allein. Da ist kein anderes Wohnmobil«, jammerte Ulli. »Hast du keine Angst?«

»Nein, warum sollte ich?« Sandra brachte den Bulli zum Stehen. »Ich finde es toll, dass wir hier nicht dicht gedrängt wie die Sardinen aufgereiht sind. Da haben wir den Strand gleich ganz für uns allein.«

»Du willst da raus?« Ulli starrte sie entsetzt an. »Man kann doch die Hand nicht vor den Augen sehen. Was ist, wenn wir plötzlich im Meer landen?«

Sandra zuckte nonchalant mit den Schultern. »Mit den Gummistiefeln bekommen wir keine nassen Füße. Wahnsinnig hoch steigt das Wasser hier in der flachen Sommebucht meist sowieso nicht. Außer bei Sturm. Doch den haben sie bei Metéo France nicht angesagt. Ich habe heute früh extra den Wetterbericht gecheckt. In den nächsten Tagen soll alles ruhig bleiben.«

»Wenigstens etwas«, murmelte Ulli. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie Sandras Abenteuergeist nicht teilte.

»Wir schnappen uns jetzt die Taschenlampen und unternehmen einen kurzen Strandspaziergang. Und danach bringen wir die Lichterketten, die ich mitgenommen habe, im Bulli an und machen es uns gemütlich. Der Bordkühlschrank ist brechend voll. Wir können es uns heute an Heiligabend richtig gutgehen lassen.«

»Ich glaube, ich habe gar keinen Appetit.« Ulli saß wie ein Häufchen Elend auf dem Beifahrersitz.

Sandra ließ sich die gute Laune nicht verderben. »Sei doch nicht immer so eine Bedenkenträgerin! Alles ist bestens, wir werden ein unvergessliches Weihnachtsfest haben. Und jetzt rein in die Gummistiefel und ab zum Strand. Ich habe keine Lust, länger zu warten.«

Austern zum Fest

»Na, wie fühlst du dich?«, wollte Sandra eine Stunde später wissen.

»Toll«, musste Ulli ein wenig atemlos eingestehen. »So etwas Verrücktes habe ich noch nie gemacht. Und die Luft hier, die ist so rein und prickelnd wie Champagner.« Sie breitete die Arme aus und drehte sich mehrmals wie ein Kreisel um die eigene Achse.

»Nun, sie scheint tatsächlich dieselbe Wirkung wie Schampus auf dich zu haben.« Sandra schmunzelte. »Trotzdem hätte ich jetzt nichts dagegen, mit einem Gläschen auf Heiligabend anzustoßen.« Dann runzelte sie die Stirn. »Sag mal, hast du die Schiebetür offengelassen?«

»Nein, natürlich nicht«, versicherte ihr Ulli.

Sandra rannte auf den quietschgelben Bulli zu. Sie benötigte keine Taschenlampe mehr, da sich mit dem ablaufenden Wasser die Wolkendecke gelichtet hatte und der fast volle Mond die Dünenlandschaft und den Stellplatz in ein fahles Licht tauchte.

»Das gibt es doch nicht«, presste sie zwischen den Zähnen hervor.

»Was ist passiert?«

»Da war jemand im Bulli. Es ist eingebrochen worden.« Jetzt klang Sandra so verunsichert wie Ulli noch vor einer Stunde.

»Hier ist doch niemand«, wandte Ulli ein.

»Jetzt nicht mehr«, antwortete Sandra grimmig. Sie eilte durch den Türspalt ins Innere, betätigte den Lichtschalter und schaute um sich. Alle Schränke waren aufgerissen worden und ihre Kleidung lag kreuz und quer verteilt. Die kleinen Lichterketten, die sie vor dem Spaziergang auf das Bett gelegt hatte, waren verschwunden. Auch von dem Weihnachtsgesteck, das sie für die Fahrt in der Spüle deponiert hatte, fehlte jede Spur. Sandra spürte, wie ihr der Hals vor Beklemmung eng wurde. Sie kniete nieder und fischte mit den Fingerspitzen nach den Handtaschen, die sie in einer Schublade unter dem Bett verstaut hatte. Dann gab sie einen Seufzer der Erleichterung von sich. Die Taschen waren nicht entwendet worden.

»Schau mal nach, ob was fehlt. Dein Geld, deine Bankkarten oder die Papiere«, sagte sie zu Ulli.

»Alles noch da«, antwortete die Freundin nach zwei, drei bangen Minuten.

»Bei mir ebenso.« Sandra kam wieder auf die Beine. Sie griff nach einem Pullover und faltete ihn zusammen. »Unsere Klamotten scheinen auch komplett zu sein. Nur die Weihnachtsdeko ist futsch.«

Ulli wies mit der Hand auf die Kühlschranktür, die sperrangelweit offenstand. »Ich befürchte, unser Weihnachtsessen hat dasselbe Schicksal ereilt.«

»Was?« Sandra starrte ungläubig in das Kühlschrankinnere, in dem nicht mehr ein einziges Salatblatt vorzufinden war. Die geräucherte Entenbrust, der Käse, die Butter, die Salatspezialitäten vom Feinkosthändler, die Wurst und die Getränke hatten sich anscheinend in Luft aufgelöst.

»Verdammt noch mal, das gibt es doch nicht«, fluchte sie. »Warum klaut uns jemand die Lebensmittel und den Weihnachtsschmuck?«

»Ich weiß es nicht«, musste Ulli kleinlaut eingestehen. »Vielleicht ist jemand in Not? Kann doch gut sein, dass er das Weihnachtsessen nötiger als wir hat.«

»Meinst du etwa, das war so eine Art Mundraub?« Sandra schnaubte verächtlich.

»Ich habe keine andere Erklärung.«

»Wenn ich den erwische …« Sandra schäumte innerlich.

»Wir sollten die Polizei informieren.«

Sandra schaute auf das Display ihres Handys. »Kurz nach neun. Am Heiligabend. Da wird niemand von den Herren gendarmes wegen so einer Lappalie zu uns herauskommen.«

»Was machen wir denn jetzt?« Ulli klang verzweifelt.

»Warte mal.« Sandra tauchte unter dem Bett ab, kam eine Minute später wieder hervorgekrabbelt und hielt triumphierend eine Flasche Single Malt Whisky in die Höhe. »Die hat der Einbrecher nicht gefunden.« Sie holte zwei Kunststoffbecher aus dem Oberschrank und gab einen ordentlichen Schuss vom Whisky in jeden. »Das habe ich jetzt auf den Schrecken nötig.« Sie leerte den Inhalt in wenigen Zügen und goss sich nochmals nach.

Ulli nippte dagegen nur vorsichtig an ihrem Glas. Der Wind trieb den Klang der Kirchenglocken vom Ort her zu ihnen hinüber.

»Frohe Weihnachten«, sagte Sandra mit einem zynischen Lächeln.

»Ich hab Hunger«, gestand Ulli. »Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Weißt du, ob es hier ein Restaurant gibt?«

»Am Hafen sind einige Restaurants. Die meisten haben Fisch, Muscheln und Austern auf der Karte. Oder Lamm, das auf den Salzwiesen der Bucht gegrast hat.«

»Hört sich gut an«, meinte Ulli.

»Das Problem ist, dass sie inzwischen geschlossen haben werden. Wir sind hier in der Picardie und nicht an der Côte d’Azur.«

»Schade«, murmelte Ulli.

»Wenn wir Glück haben, hat mein Bruder noch irgendwo im Bulli eine Dose Ravioli versteckt. Als Notration. Das ist der Klassiker unter Campern.«

»Besser als nichts.«

»Du nimmst die linke Seite und ich die rechte«, schlug Sandra vor. Eine Viertelstunde suchten sie verbissen, durchkämmten jede Nische und jeden Winkel, doch außer einer Packung Salzstangen, die schon vor fünf Jahren abgelaufen war, fanden sie nichts Essbares.

»Wir trinken jetzt noch einen Whisky und hauen uns in die Falle«, sagte Sandra und griff nach einer Salzstange. »Und morgen früh suchen wir eine Boulangerie. In Frankreich haben einige Bäckereien auch über die Feiertage auf. Da decken wir uns mit Brot und Gebäck ein.«

»Ein frisches Croissant mit Erdbeermarmelade«, sagte Ulli träumerisch und steckte sich ebenfalls eine der wie Pappe schmeckenden Salzstangen in den Mund.

»Ein pain au chocolat. Und knuspriges Baguette, dick mit Salzbutter bestrichen.« Sandras Magen knurrte so laut, dass er sogar das Meeresrauschen übertönte.

»Du hast recht gehabt. Dieses Weihnachten wird für uns unvergesslich bleiben.« Ulli trank einen kleinen Schluck Whisky und seufzte laut auf. In dem Moment pochte es an der Schiebetür. Die beiden Frauen zuckten zusammen.

»Wer kann das sein?«, flüsterte Ulli ängstlich.

»Keine Ahnung«, flüsterte Sandra zurück.

Das Klopfen wiederholte sich.

Ulli stand die Panik ins Gesicht geschrieben.

»Ist vielleicht der Weihnachtsmann«, zischte Sandra in einem Anflug von Galgenhumor. »Wird ja auch Zeit für die Bescherung.«

»Bonsoir. Ist da jemand?«, fragte eine Stimme mit französischem Akzent.

»Dem Himmel sei Dank. Unser Retter in der Not.« Sandra sprang auf.

»Was ist, wenn das eine Falle ist?« Ullis Hände zitterten. »Man liest das doch immer wieder: Da bietet jemand einsamen Frauen, die eine Autopanne haben oder die in eine andere missliche Lage geraten sind, seine Hilfe an. Und am nächsten Tag werden sie tot aufgefunden, weil sie einem Serienmörder aufgesessen sind.«

»Wir sind nicht einsam, wir sind zu zweit«, korrigierte Sandra sie, steckte jedoch vorsichtshalber das kleine Schälmesser aus der Küchenschublade in die Jeansvordertasche. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt weit.

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»Joyeux Noël, frohe Weihnachten«, sagte eine Männerstimme. Ein älterer, etwas korpulenter Herr mit weißem Haupthaar und weißem Bart lächelte sie wohlwollend an. »Ich habe vernommen, dass Sie in Schwierigkeiten sind.«

Sandra fiel die Kinnlade hinunter. »Aber wie denn? Wir haben doch nicht um Hilfe gerufen oder telefoniert.«

»Ach, ich habe da so meine Beziehungen«, antwortete der Mann mit einem Schmunzeln.

Ulli getraute sich, ebenfalls durch den Türspalt zu linsen. »Wir sind ausgeraubt worden«, erklärte sie.

»Ja, das tut mir wirklich leid. Kein freundlicher Empfang, den mein Land Ihnen da bereitet hat. Und das am Heiligabend.«

»Ich wollte meiner Freundin mit der Reise ein besonders schönes Geschenk machen. Ihr eine Pause von ihren Alltagssorgen gönnen. Und jetzt das …« Sandras Stimme spiegelte eine Mischung aus Verärgerung und Verzweiflung wider.

»Ach, noch ist Weihnachten ja nicht vorüber«, sagte der Mann. »Noch ist alles möglich.«

»Könnten Sie uns sagen, ob hier zur späten Stunde womöglich ein Restaurant offen hat?«, fragte Sandra hoffnungsvoll. »Eigentlich dürfte ich mich ja nicht mehr hinters Steuer setzen. Ich habe schon zwei Gläser Whisky intus. Aber wir sind beide so fürchterlich hungrig. Da wird die Polizei sicherlich über das klitzekleine Promillchen zu viel hinwegsehen. Ich verspreche auch, ganz langsam und ganz vorsichtig zu fahren.«

»Mais non, machen Sie es sich besser in Ihrem Camper gemütlich«, sagte der Mann und reichte ihr den großen dunkelbraunen Sack, der hinter ihm gestanden hatte. »Darin finden Sie alles, was Sie brauchen.«

Sandra hatte Mühe, den schweren Sack in den Bulli zu hieven. »Himmel, was ist denn da drin? Das sind doch keine Backsteine, oder?«, fragte sie misstrauisch.

Der Mann lachte laut auf. »So etwas Unverdauliches würde ich Ihnen niemals anbieten. Sehen Sie nach. Ich versichere Ihnen, dass es Ihnen an nichts fehlen wird.«

Sandra hatte ein wenig Mühe, die Schnur zu lösen, mit der der Sack oben zugebunden war. Als sie einen kurzen Blick ins Innere geworfen hatte, verschlug es ihr die Sprache.

»Eh bien, habe ich zu viel versprochen?«, wollte der Mann mit einem Lächeln wissen.

»Das ist wirklich total lieb von Ihnen. Und so großzügig. Aber das alles, das können wir nicht annehmen«, stammelte Sandra. »Wir sind doch Fremde für Sie.«

»Oh nein, das sind Sie nicht.« Der Mann schüttelte energisch den Kopf, wodurch sein langer weißer Bart hin und her wippte. »In unseren Herzen tragen wir denselben Wunsch, haben dasselbe Ziel. Wir gehören nicht zu denen, die selbstsüchtig sind und denen das Wohl ihrer Mitmenschen egal ist. Wir übernehmen Verantwortung, kümmern uns. Deshalb wünsche ich Ihnen und Ihrer Freundin bon appétit. Lassen Sie es sich schmecken.«

»Wollen Sie nicht mit uns essen?«, bot Ulli an, die inzwischen ebenfalls in den Sack geschaut hatte. »Das reicht doch für eine ganze Kompanie.«

»Oh, ich hätte schon Lust«, gestand der Mann. »Ich habe noch nie einen Heiligabend im Wohnmobil verbracht. Das stelle ich mir sehr beschaulich vor.«

»Dann kommen Sie doch herein.« Sandra machte eine einladende Handbewegung.

»Je regrette … Leider habe ich noch einige Termine«, bedauerte der Mann. »Wissen Sie, am Weihnachtsabend und am Morgen danach bin ich immer sehr beschäftigt, da wird die Zeit meist knapp. Und die weiten Strecken, die ich in den paar wenigen Stunden zurücklegen muss, machen es nicht gerade einfacher. Doch ich will mich nicht beklagen. Ich liebe meinen Job. Alle Jahre wieder. Au revoir, mesdames.«

Er hob zum Abschiedsgruß die Hand. In dem Augenblick schob sich eine Wolke vor den Mond.

Sandra starrte angestrengt in die Dunkelheit. »Wo ist er denn plötzlich abgeblieben?«, wunderte sie sich.

»Ich habe auch kein Auto gehört«, meinte Ulli und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Was sollen wir nun tun?«

»Wir packen alles aus und machen uns über die Köstlichkeiten her.« Sandra fischte ein ofenwarmes Baguette aus dem Sack.

»Riecht das gut«, schwärmte Ulli.

»Da ist noch mehr.« Sandra zog eine Delikatesse nach der anderen aus dem Sack. Bald schon bogen sich der Tisch der Dinette und die kleine Küchenzeile unter den Zutaten für das Weihnachtsmahl.

»Zehn verschiedene Sorten Käse«, zählte Ulli auf. »Dazu Edelsalami mit Steinpilzen, Entenconfit, Bayonne-Schinken, Wildschweinpastete, Trüffelbutter, grüne und schwarze Tapenade, ein Gläschen Aïoli, glasierte Maronen, in Weißwein eingelegte Muscheln, Sardinen in Olivenöl und Fischsuppe aus der Bretagne. Und zum Nachtisch Buttergebäck, Madeleines, Nougat aus Montélimar und Mandelkonfekt aus der Provence.« Sie runzelte die Stirn. »Was ist das hier?«

»Eine Bûche de Noël, der klassische französische Weihnachtskuchen. Ein Baumstamm aus Biskuitteig, der mit Schokoladencreme gefüllt ist«, erklärte Sandra.

»Ich kann es kaum glauben«, seufzte Ulli selig.

»Sogar die passenden Getränke sind dabei«, staunte Sandra.

»Womit fangen wir an?«

»Mit dem Champagner.« Sandra ließ den Korken ploppen. »Wir stoßen erst an und machen uns dann über die Austern her. Sieh mal, sogar ein Austernmesser ist mit dabei.«

»Himmlisch«, sagte Ulli, als sie die erste Auster geschlürft hatte. »So gut habe ich zu Weihnachten noch nie gegessen.«

»Und das ist erst der Anfang«, freute sich Sandra.

Sie ließen sich viel Zeit und genossen all das, was ihnen kredenzt worden war.

»Wie zerronnen, so gewonnen«, murmelte Sandra, als sie sich weit nach Mitternacht ins Bett kuschelten.

»Heißt es nicht genau umgekehrt?«, wandte Ulli ein.

»Egal«, murmelte Sandra und war sofort eingeschlafen. Auch Ulli fielen die Augen zu.

Austern zum Fest

Am Weihnachtsmorgen wurden sie geweckt, weil ein weiteres Wohnmobil auf den Platz hinter den Dünen fuhr. Sandra rekelte sich wohlig und schaute die Freundin fragend an. »Sag mal, habe ich das gestern Abend alles nur geträumt?«

»Wenn ja, dann war es ein sehr realer Traum«, antwortete Ulli und wies mit dem Kinn auf die Reste des Festmahls, die auf dem Tisch der Dinette standen.

»Ich habe ja schon öfter gehört, dass Weihnachten in Frankreich magisch sein soll«. Sandra richtete den Oberkörper auf. »Aber das hat all meine Erwartungen übertroffen.«

»Meinst du, dass das gestern tatsächlich der Weihnachtsmann war?«, getraute sich Ulli zu fragen.

»Ich weiß nicht«, gestand Sandra. »Doch ich habe schon als Kind nicht glauben wollen, dass ein einziger Mann das riesige Bescherungsprogramm an einem Abend schafft. Der Weihnachtsmann wird sicherlich Hilfspersonal haben. Vielleicht hatten wir es ja mit dem Repräsentanten der französischen Geschäftsstelle für Weihnachtsangelegenheiten zu tun.«

»Sein Akzent würde darauf hinweisen«, stimmte Ulli nachdenklich zu. »Und seine offensichtliche Passion für gutes Essen auch.«

»Ich bin noch immer pappsatt«, beteuerte Sandra.

»Was das Essen betrifft, da sind mir alle Wünsche und mehr erfüllt worden.« Ulli schwieg zwei, drei Minuten, schien in Gedanken versunken. »Eigentlich hätte ich jetzt nur noch einen einzigen Herzenswunsch«, sagte sie schließlich und schaute versonnen aus dem Heckfenster. In dem Moment gab ihr Handy einen Piepton von sich.

»Eine Nachricht für dich«, sagte Sandra. »Willst du nicht nachschauen?«

»Nein, nicht jetzt. Es ist sicherlich etwas Unangenehmes«, wehrte Ulli ab. Sie hatte wieder den verhuschten Gesichtsausdruck aufgelegt, der Sandra damals im Duisburger Café in gleichem Maße gestört und alarmiert hatte.

»Nun mach schon.« Sandra knuffte sie in die Seite. »Vom Aufschieben wird es nicht besser.«

Ulli griff mit spitzen Fingern nach ihrem iPhone und drückte ein paar Tasten. Nach wenigen Sekunden hellte sich ihr düsteres Gesicht auf.

»Das war eine Nachricht von meinem Sohn«, sagte sie mit belegter Stimme. »Er hat mich für Silvester eingeladen.«

Sandra umarmte die Freundin stürmisch. »Das sind doch super Neuigkeiten. Ach, was für eine magische Zeit! Frohe Weihnachten.«

»Frohe Weihnachten«, wiederholte Ulli.

Es war ihr anzusehen, dass sie es diesmal auch meinte.

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2 Gedanken zu „Austern zum Fest – Eine Wohnmobil-Weihnachtsgeschichte aus Frankreich

  1. Das hört sich doch auch nach einem guten Plan an! Und ja, für Austern benötigt man nur eine minimale Küchenausstattung, die gehen fast überall.
    Wir wünschen ein frohes und gesundes Fest. Liebe Grüße aus dem Odenwald.

  2. Lieben Dank für die schöne Geschichte zur Weihnachtszeit. Wir sind dieses Jahr auch viel unterwegs.
    Von Januar bis April auf den Kanaren. Vom Dezember bis Januar jetzt an der Algarve. Meist mit Hapimag.
    Da kann man sich auch mal auf dem Zimmer ein paar Austern selber aufmachen…
    Liebe Grüße

    Rene und Annette Brosius

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