Bretagne-Roman

Bretagne-Roman

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Ein romantischer Spannungsroman in der wild-romantischen Kulisse der Bretagne.


Welches dunkle Geheimnis birgt Mouez ar Mor, das Haus am Steinkreis?

Ein Haus auf den Klippen, direkt am Steinkreis von Lagatjar in der wild-romantischen Bretagne. Dort wagen Simone und Klaus Scheffler aus Dresden einen Neuanfang. Die Eventköchin und der ehemalige Profikletterer stürzen sich mit Enthusiasmus in die Renovierung des seit Längerem leer stehenden Hauses.
Ihr neues Glück ist von kurzer Dauer. Unter der Last von Rückschlägen und unvorhergesehenen Schwierigkeiten wird ihre Ehe auf eine Zerreißprobe gestellt. Dann kehrt Klaus von einem Kletterausflug an den schroff ins Meer abfallenden Klippen der Pointe de Pen Hir nicht mehr zurück und gilt als vermisst.
In dieser verzweifelten Situation findet Simone Unterstützung durch den charismatischen und gut aussehenden Werftbesitzer Yann Hervé. Aber ist er wirklich der, der er vorgibt zu sein? Und warum drängt er Simone ständig, ihr Haus wieder zu verkaufen?
Die Antworten auf diese Fragen kennt vielleicht der zurückgezogen lebende Tierarzt Tomaz Kerrien. Als Simone einen Hundewelpen vor dem Ertrinken rettet, kommen die beiden sich näher. Tomaz Kerrien ist sich sicher, in Simone einen Menschen gefunden zu haben, dem er endlich wieder vertrauen und seine Liebe schenken kann. Doch Simone fühlt sich noch an Klaus gebunden.
Im Tumult der Gefühle bemerkt Simone die drohende Gefahr nicht und tappt blindlings in eine Falle, die ihr um ein Haar das Leben kostet. Zum gleichen Zeitpunkt wird Tomaz Kerrien für das Verschwinden seiner besten Freundin Joela vor 25 Jahren verantwortlich gemacht. Beide Vorkommnisse scheinen eng mit Simones Haus verknüpft zu sein. Auf der Suche nach der Wahrheit gerät Simone immer stärker in Bedrängnis und muss erneut um ihr Leben kämpfen.

Bretagne-Roman Die Wahrheit kennt nur das Meer

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Leseprobe

Prolog – Der Abend des 30. April 1990

Mit einem Seufzer des Bedauerns hüllte Joela LeRoy die wertvolle keltische Harfe in die Aufbewahrungstasche. Sie war viel zu spät dran. Die anderen würden schon ungeduldig am Steinkreis auf sie warten. Immer, wenn Joelas grazile Finger über die vierunddreißig Carbonsaiten der Harfe huschten, vergaß sie Zeit und Raum. Nun musste sie sich sputen.

Joela schlüpfte in ihren dunklen Kapuzenmantel und griff nach dem Silberring mit dem geheimnisvollen Mondstein, der auf ihrem Nachttischchen lag. Die Tasche mit den notwendigen Utensilien hatte sie bereits am Vorabend gepackt. Von ihrer Seite aus war alles bestens vorbereitet, damit sie der alten Götter, an die sie seit ihrem zwölften Lebensjahr fest glaubte und denen sie getreulich huldigte, zu Beltane opfern konnte. Joela polterte die schmale Holztreppe mit den ausgetretenen Stufen zur Küche hinunter. Dort saß Anna LeRoy, Joelas Mutter, am mit einer dunkelroten Wachsdecke bedeckten Küchentisch und legte Tarotkarten. Joela beugte sich zu ihrer Mutter hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die linke Wange.

»Was sagen die Karten?«

Mit vor Konzentration zusammengekniffen Augen studierte Anna LeRoy die zum Keltischen Kreuz angeordneten Karten. »Das Rad des Schicksals und Sieben der Schwerter.«

»Gut oder schlecht?« Joela holte den von ihrer Mutter liebevoll zusammengestellten Proviantkorb aus der Speisekammer und deckte ihn mit einem rot-weiß karierten Küchenhandtuch ab.

Anna LeRoy schüttelte nachdenklich den Kopf. »Äußerst seltsam«, murmelte sie.

»Ich gehe dann mal!« Joela drückte ihre Mutter kurz an sich.

»Ich wünsche dir ein schönes Beltanefest.« Anna LeRoy lächelte zum Abschied. »Pass gut auf dich auf!«, fügte sie leise hinzu.

»Mache ich!«, versprach Joela beim Hinausgehen. »Aber keine Sorge! Tomaz wird ja auch mit am Steinkreis sein.«

»Sag ihm liebe Grüße.« Anna LeRoy wandte sich wieder den Karten zu.

Joela befestigte den Proviantkorb und die Decke, an die sie in letzter Minute noch gedacht hatte, auf dem Gepäckträger ihres schwarz lackierten, altmodischen Fahrrades. Tief über den Lenker gebeugt trat sie kräftig in die Pedale, um den steilen Aufstieg der Rue Saint-Pol Roux zu bewältigen. Sie musste den Steinkreis von Lagatjar erreichen, bevor die Sonne untergegangen war.

Dort hatten die fünf Jungen am Fuße eines knapp zwei Meter hohen, aus weißem Quarzit gehauenen Menhirs bereits ein prasselndes Lagerfeuer entzündet.

Avel Lavor, der schon vor Morgengrauen mit seinem Vater zum Langustenfang aufgebrochen war, gähnte, bis seine Kiefermuskeln knackten. Wieder einmal waren die Netze bis auf ein paar Seespinnen fast leer geblieben, sodass sie kaum die Francs für den Bootsdiesel zusammenbekommen hatten.

»Die verdammte Langustenfischerei ist im Arsch«, hatte sein Vater geflucht und der Markierungsboje, die Avel gerade aus dem Wasser gezogen hatte, einen heftigen Fußtritt verpasst. Der dramatische Niedergang einer der Haupterwerbsquellen der Fischer von Camaret-sur-Mer und die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten führten dazu, dass Avels Vater immer öfter die Hand ausrutschte. Avel strich sich über den rechten Unterkiefer, wo die Haut unter dem dunklen Bartflaum gelblich verfärbt und schmerzempfindlich war. Avel wusste schon jetzt, dass er den Abend mit der Clique in wenigen Stunden bereuen würde. Denn um kurz nach halb vier würde ihn der Wecker unbarmherzig aus den Federn zwingen. Während die anderen Jungen, allen voran der aus einem wohlhabenden Ärztehaushalt stammende Tomaz Kerrien, es sich leisten konnten, den halben Tag im Bett herumzulungern, musste Avel sich auch am Feiertag auf dem Kutter schinden.

»Merde!«, murmelte Avel und spuckte den schlechten Geschmack, der sich plötzlich in seinem Mund breitgemacht hatte aus.

»Hier, nimm einen Schluck!«, forderte ihn der einen halben Kopf kleinere Ewen Morin auf und wedelte auffordernd mit der Flasche vor Avels Augen. »Yann hat sich heute nicht lumpen lassen. Natürlich wieder auf Rechnung seines Onkels. Der alte Trottel ist inzwischen so verblödet, dass er noch nicht einmal mitbekommt, wenn Yann ihm den besten bretonischen Whisky unterm Hintern wegklaut.«

»Nee, lass mal«, erwiderte Avel und gähnte nochmals. »Ich warte besser, bis Joela mit dem Proviant auftaucht. Ihre Mutter hat zum Wochenende bestimmt wieder mehrere Bleche Kouign-amann gebacken.« Beim Gedanken an den buttrigen Kuchen mit der knackigen Karamellschicht lief ihm schon jetzt das Wasser im Mund zusammen.

»Na, schon in Feierlaune?« Yann Hervé, der nicht nur für den Vorrat an Whisky, Champagner, Cidre und Wein, sondern auch für die Idee zur Party am Steinkreis gesorgt hatte, spazierte zu den beiden Freunden hinüber. Ein handgestrickter dunkelblauer Wollpullover war lässig um seine breiten Schultern geschlungen. Seine glitzernde Pilotensonnenbrille steckte auf dem kohlrabenschwarzen Haar, von dem ihm eine rebellische Strähne in die Stirn fiel. Mit einer Geste, bei der fast jedes Mädchen auf dem Lycée weiche Knie bekam, strich er sich die Strähne aus den Augen.

Avel trat an seine Seite. »Wo sind Tomaz und Ronan?«

»Sammeln am Strand Treibholz auf«, erwiderte Yann. »Ich sage euch, das wird eine lange und ereignisreiche Nacht.« Sein Mund verzog sich zu einem genüsslichen Lächeln, bei dem zwei Reihen perfekt gepflegter Zähne aufblitzten.

»Ich hoffe, dass dieser Esokram von Joela uns nicht zu lange aufhalten wird«, warf Ewen ein.

»Mir sind Joelas alte Götter auch so was von schnuppe«, stimmte ihm Avel zu, der wieder an den Kouign-amann denken musste. Er war ohne Frühstück zum Langustenfang aufgebrochen und hatte danach in der Küche nur noch ein halbes altbackenes Baguette vorgefunden. Ein dürftiges Mahl für einen Jungen in der Spätpubertät.

»Hey, da ist Joela! Endlich!«, rief Ewen und stellte die Whiskyflasche auf den Grasboden.

»Du bist ganz schön spät dran!«, stellte Avel fest.

»Ich bin aufgehalten worden«, schwindelte Joela und lehnte ihr Fahrrad gegen einen der Menhire.

»Hast du an den Proviant gedacht?«, erkundigte sich Avel besorgt.

»Sicher«, erwiderte Joela und wies auf den großen Korb, der mit zwei alten Segeltauen am Gepäckträger festgezurrt war.

Yann warf Avel einen vernichtenden Blick zu. »Mon Dieu, wie langweilig! Kannst du immer nur an das eine denken?«

»Nein«, murmelte Avel, obwohl sich seine Gedanken erschreckend oft um seine nächste Mahlzeit beziehungsweise um die Sorge, wo sie herkommen würde, drehten. Seitdem Avels Mutter vor drei Jahren gestorben war, herrschte in der Küche und im Kühlschrank meist gähnende Leere. Avels Vater investierte die mühsam verdienten Francs lieber in Bier und Schnaps als in Brot.

Yann nahm die Hände aus den Taschen und schlenderte auf Joela zu. Besitzergreifend legte er seinen rechten Arm um ihre Schulter und hauchte ihr drei Küsse, rechts, links, rechts auf die Wange. »Bonsoir, ma belle!«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Joela zuckte zurück, weil Yanns Atem schon jetzt nach Alkohol roch und seine Hand von ihrer Schulter zum V-Ausschnitt ihres Baumwollkleides gewandert war. Abrupt drehte sie sich von Yann weg und hielt den Mantel über dem Brustkorb zusammen. »Ihr könnt schon mal den Korb mit dem Proviant und meine Decke zum Feuer bringen«, sagte sie zu Ewen und Avel. »Ich kümmere mich um die Vorbereitungen für Beltane.«

Ewen verdrehte die Augen, tat aber, wie Joela ihm geheißen hatte. Avel schlurfte mit der Decke hinter ihm her. In dem Moment tauchten Ronan Corbel und Tomaz Kerrien auf dem Fußweg auf, der vorbei am verfallenen Herrenhaus des Dichters Saint-Pol-Roux hinunter zum Strand führte. Tomaz zog einen quietschenden Bollerwagen, auf dem sich silbergrau schimmerndes Treibholz türmte, hinter sich her. Ronan trug zwei dicke Eichenbalken, die irgendwo auf dem Atlantik über Bord gegangen und am mit weißem Sand bedeckten Strand von Pen Hat angeschwemmt worden waren, auf den massigen Schultern.

»Gute Arbeit, Jungs!«, lobte Yann die beiden Freunde, vermied es aber geflissentlich, sich beim Abladen des Holzes die Finger schmutzig zu machen.

Ronan wischte sich die Handflächen an seiner speckigen Cordhose ab und grunzte: »Mann, hab ich jetzt einen Durst!«

Ewen reichte ihm wortlos eine Flasche Cidre.

Tomaz schaute zugleich fasziniert und alarmiert zu, wie der Inhalt der Flasche mit lediglich drei kurzen Bewegungen von Ronans kräftigem Adamsapfel in dessen Kehle verschwand.

»Du auch?« Ewen streckte Tomaz eine Flasche entgegen.

Tomaz schüttelte den Kopf. Er konnte Alkohol nicht viel abgewinnen und ärgerte sich, dass er vergessen hatte, eine Flasche Wasser einzustecken. Vielleicht hatte ja Joela daran gedacht. Sie schien immer schon im Voraus zu wissen, was gut für ihn war.

Tomaz und Joela hatten sich im Sandkasten der École maternelle, der Vorschule, kennengelernt. Dort hatte Tomaz wie ein Häufchen Elend gehockt und mit den Tränen gekämpft, weil ihn die großen Jungen wieder einmal wegen seines Stotterns gehänselt hatten. Joela hatte sich zu ihm gesetzt und ihm die Hälfte ihres Pain au chocolat entgegengestreckt. Tomaz hatte nur kurz gezögert. Als sich die schmelzende Schokolade tröstend auf seine Zunge legte, hatte er seinen Kummer schon fast vergessen. Ein Lächeln huschte über sein schmales Gesicht. Der Mund des rothaarigen Mädchens verzog sich zu einem breiten Grinsen.

»Ich habe gesehen, wie du der Katze, die im Fahrradschuppen wohnt, ein paar Scheiben Salami mitgebracht hast.«

»Es kümmert sich ja sonst niemand um sie«, murmelte Tomaz etwas verlegen, aber fast ohne zu stottern.

Das rothaarige Mädchen wischte sich ein paar Krümel von der Bluse und verkündete: »Ich frage meine Mutter heute Abend, ob ich ein paar Bratenreste bekomme. Dann können wir ab morgen die Katze gemeinsam füttern.«

Von da an versäumten es Joela und Tomaz an keinem einzigen Morgen, der streunenden Katze ein üppiges Frühstück zu servieren. Selbst in den Ferien trafen sie sich morgens um kurz vor acht beim Fahrradschuppen. Wodurch sich nicht nur die magere, etwas räudig aussehende Katze im Laufe der Monate zu einem Prachtexemplar mit glänzendem Fell entwickelte, sondern auch die Basis für eine Freundschaft geschlossen wurde, die Tomaz Leben komplett veränderte.

Mit der feinfühligen, klugen, aber auch nicht auf den Mund gefallenen Joela an seiner Seite blühte Tomaz sichtlich auf. Er lernte, sich gegen seine Peiniger zur Wehr zu setzen. Außerdem bestand Joela darauf, dass Tomaz ihr, sobald sie beide des Lesens mächtig waren, täglich laut vorlas. So kämpfte er sich jeden Nachmittag in Joelas kunterbuntem Zimmer durch ein paar Seiten der dicken Bände von keltischen und bretonischen Sagen, die Joela über alles liebte. Beim Eintritt in die Sekundarstufe war Tomaz Stottern für immer verschwunden. Dafür war er Joela so dankbar, dass er alles für sie getan hätte. Sie war für ihn der wichtigste Mensch auf der ganzen Erde. Ein Leben ohne Joela konnte Tomaz sich nicht vorstellen. Sie war alles für ihn.

Als Joela, die gerade einen abgeflachten Menhir als Altar für ihr Beltanefest schmückte, Tomaz auf sich zukommen sah, blitzten ihre grünen Katzenaugen erfreut auf. Dann runzelte sie nachdenklich die hohe, intelligente Stirn.

»Du siehst müde aus.«

»Ich habe die ganze Nacht versucht, der Mantelmöwe mit dem gebrochenen Flügel ein wenig Nährflüssigkeit einzuträufeln.«

»Und? Ist es dir gelungen?« Joela legte den aus Farnblättern und gelben Ginsterblüten geflochtenen Kranz um das kleine Sturmlicht, das sie in die Mitte ihres Altars gestellt hatte. Ein paar Möwen­federn, Muschelschalen und fünf weiße Kiesel vervollständigten das Ensemble.

»Ich habe die Möwe vor einer Stunde hinten im Garten begraben«, sagte Tomaz leise. Noch immer schmerzten sein Versagen und das Gefühl von Hilflosigkeit, das ihn erfüllte.

Joela legte kurz ihre schmale, feingliedrige Hand auf seinen rechten Unterarm. »Ach, Tomaz! Das tut mir leid.«

Tomaz seufzte. »Ich weiß einfach zu wenig.«

»Aber ich weiß, dass du in ein paar Jahren der beste Tierarzt in der ganzen Bretagne sein wirst«, versuchte Joela ihn zu trösten.

»Wenn deine Götter es so wollen, vielleicht.« Tomaz zuckte mit den Schultern und legte ein blendend weißes, verlassenes Gehäuse eines Einsiedlerkrebses, das er vorhin am Strand aufgelesen hatte, auf Joelas improvisierten Altar.

Was seine Zukunft anging, da hatte Tomaz keine Illusionen. Und wenig Hoffnung, dass er das, wonach er sich mit ganzem Herzen sehnte, letztendlich würde realisieren können.

»Ich werde die Götter bitten, dass sie dir besonders viel Kraft verleihen«, versprach Joela und zündete den Docht des Sturmlichtes mit einem Feuerzeug an.

Einen Augenblick schaute Tomaz versonnen in die flackernde Flamme. Er konnte weder Joelas Zuversicht noch ihren Glauben an die alten Götter, denen man hier im Steinkreis von Lagatjar seit Anbeginn der Zeit huldigte, teilen. Doch er wollte Joela nicht die Freude an der Zeremonie, die sie bereits zum dritten Mal miteinander abhielten, verderben. Joelas Eifer und ihre Ernsthaftigkeit waren anrührend. Auch wenn die vier Jungen am Lagerfeuer mit Sicherheit bereits Witze über sie rissen. Sich auf ihre Kosten amüsierten. Verdrossen kickte Tomaz einen kleinen Stein, der sich aus dem mit Gras bedeckten Boden gelöst hatte, zur Seite. Joela warf dem Freund einen mitfühlenden Blick zu.

»Ich wäre zu Beltane auch lieber mit dir allein«, flüsterte sie und unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen. Etwas war heute anders als in den vergangenen Jahren. Joela spürte, wie eine seltsame Unruhe sich in ihr breitmachte. Was dazu führte, dass ihre Bewegungen fahrig und ihre Gedanken alles andere als fokussiert waren. Vielleicht lag es daran, so grübelte sie, dass sie sich in der Anwesenheit der Jungenclique nicht getraut hatte, ihre übliche Reinigungszeremonie vorzunehmen. Infolgedessen empfand sie die Atmosphäre im Steinkreis als ungewöhnlich angespannt. Fast schon beklemmend. Auf jeden Fall nicht so fröhlich und zuversichtlich, wie man es zu Beltane, dem keltischen Fest zum Wiedererwachen des Lebens nach dem langen, kalten Winter erwarten konnte. Ein kalter Schauer kroch über Joelas Rücken.

Tomaz Fußspitze suchte und fand einen weiteren Stein, an dem er seinen Frust ablassen konnte. »Ich habe wirklich alles versucht. Aber du weißt ja, wie Yann sein kann. Er hat sich diese Party schon seit Wochen in den Kopf gesetzt.«

Joela schaute zum Lagerfeuer hinüber, wo Yann gerade einen Scherz von sich gab, über den die anderen Jungen pflichtschuldig lachten. Joela zog eine angewiderte Grimasse.

»Wenn Yann sich etwas in den Kopf gesetzt hat, können ihn nichts und niemand davon abbringen.«

»Ich schon gar nicht«, murmelte Tomaz, mehr zu sich selbst als zu Joela.

In den vergangenen Wochen hatte er sich oftmals gefragt, warum er sich in seiner knapp bemessenen Freizeit überhaupt noch mit den anderen Jungen abgab. Nicht einen Einzigen der Vier konnte er als wahren Freund bezeichnen. Yann behandelte ihn stets von oben herab. Ronan und Ewen machten sich hinter seinem Rücken über ihn lustig. Nannten ihn noch immer den Stotterer, obwohl Tomaz sie inzwischen mit Leichtigkeit in Grund und Boden hätte reden können. Mit Avel hatte Tomaz in der Grundschule eine Schulbank geteilt. Innerhalb von nur wenigen Tagen war Tomaz klar geworden, dass Avel, aus welchen Gründen auch immer, einen beharrlichen Groll gegen ihn hegte, den er bis zum heutigen Tag nicht abgelegt hatte. Trotzdem, so dachte Tomaz verbittert, schaffte er den Absprung nicht. Ließ sich immer wieder im Sog der Clique mitreißen. Für den heutigen Abend hatte er sich jedoch fest vorgenommen, dafür zu sorgen, dass wenigstens Joela nicht unter den anderen zu leiden hätte.

Im Grunde war es einem mehr als blöden Zufall geschuldet, dass sie als einziges Mädchen in die Runde der fünf Jungen geraten war. Wenn der Citroën BX Sport von Yanns Eltern nicht kurz vor Châteaulin einen Plattfuß gehabt und sie dadurch ihren Wochenendausflug nach Quimper hätten abbrechen müssen, wäre Yanns Party am Steinkreis bereits am vergangenen Wochenende gestiegen. Wären Joela und Tomaz am Vorabend zum ersten Mai ungestört geblieben. Nun mussten sie versuchen, das Beste aus der verfahrenen Situation zu machen. Tomaz seufzte lauf auf.

»Schnell! Uns bleibt nicht mehr viel Zeit!«, unterbrach Joela seine Grübeleien. »Die Sonne ist gerade untergegangen!«

Tomaz nickte. »Okay. Wir machen es wie abgesprochen.«

Um die anderen abzulenken, eilte er zurück zum Lagerfeuer. Von dort aus winkte ihm Ewen bereits einladend mit einer Flasche entgegen. Mit Unbehagen registrierte Tomaz, dass der Alkoholpegel in der letzten halben Stunde deutlich angestiegen war. Avel machte sich an Joelas Proviantkorb zu schaffen. Tomaz riss ihm den Korb aus den Händen.

»Gegessen wird erst, wenn auch Joela dabei ist!«

Avel wurde aus Zorn über Tomaz Eingreifen bleich, schaffte es jedoch, sich zu beherrschen.

»Mir ist flüssige Nahrung eh lieber«, gackerte Ronan, dessen Augen bereits Schwierigkeiten hatten, geradeaus zu schauen.

»Tchin-tchin, les copains!« Yann ließ einen Champagnerkorken knallen.

Joela zuckte erschrocken zusammen. Ihr gefiel überhaupt nicht, was dort am Lagerfeuer vor sich ging. Doch sie hatte keine andere Wahl. Wenn sie, wie es ihr Glauben verlangte, den alten Göttern zu Beltane opfern wollte, musste sie die Störungen wohl oder übel in Kauf nehmen. Um sich zu fokussieren, atmete Joela ein paarmal ganz bewusst tief ein und aus. Schließlich warf sie mit einem Ruck den Kopf in den Nacken und hob die Arme zum Himmel. Die flackernde Sturmlampe warf zuckende Schatten auf ihr blasses Gesicht. Eine Windböe brachte ihr flammend rotes Haar zum Flattern, sodass es wie ein Leuchtfeuer in der aufziehenden Dunkelheit anmutete. Joela fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen.

»Ihr Götter«, so begann sie, »nehmt an diesem Abend, der die Wiederkehr des Lichtes, der Hoffnung, Fruchtbarkeit und Fröhlichkeit bedeutet, meine bescheidenen Opfergaben entgegen. Seid mir und den anderen Menschen dieser Halbinsel wohl gesonnen und wacht gnädig über unser Schicksal. Bleibt stets achthabend an unserer Seite.«

Joela griff nach der Schale mit den getrockneten, noch zart nach Sommer und Unbeschwertheit duftenden Kräutern und warf diese kreisförmig um sich.

Später war der Duft von getrocknetem Rosmarin das Letzte, woran sie sich erinnerte. Bevor ihre Welt in Dunkelheit versank.

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