
Die Weihnachtsfreunde – Eine besinnliche Geschichte für Camper
Seit Jahren treffen sich die Weihnachtsfreunde mit ihren Wohnmobilen auf einer abgelegenen Wiese, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. Doch in diesem Jahr ist alles anders, denn eine von ihnen fehlt, wird schmerzlichst vermisst. Und dann machen auch noch Neuankömmlinge den Weihnachtsfreunden ihren traditionellen Stellplatz streitig. Wird es trotzdem ein schönes Fest für die Weihnachtsfreunde? Und schaffen sie es, in mehr als einer Hinsicht einen Neubeginn zu wagen?
Himmel Herrgott, wo war nur die Kiste mit der Weihnachtsdeko fürs Wohnmobil?
Klaus Wegener seufzte laut auf. Er suchte seit zwei Stunden, hatte dabei fast die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, doch die vermaledeite Kiste war nicht aufzufinden. Wo hatte Marga sie versteckt? Entmutigt raufte er sich das schüttere Haar und ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen. Ich schaffe das nicht, dachte er niedergeschlagen. Am liebsten wäre ihm, er könnte Weihnachten in diesem Jahr komplett ausfallen lassen. Als Mitte September die ersten Lebkuchen und Spekulatius in den Regalen der Supermärkte aufgetaucht waren, hatte es noch genügt, einfach den Kopf abzuwenden und den Einkaufswagen in einen anderen Gang zu schieben. So zu tun, als ob ihn das alles nichts anginge, als ob die Vorboten des Festes von allein wieder verschwinden würden. Doch inzwischen half das Wegsehen, das Ignorieren nicht mehr. In vier Tagen war Heiligabend. Ihm graute davor. In der Wohnung war nichts, was auf das nahende Fest hinwies: kein Adventskranz, keine Lichtergirlande, kein Tannengrün, kein Weihnachtsstern auf der Fensterbank, kein Geruch von Zimt- und Schokogebäck. Klaus hatte sich eine weihnachtsfreie Zone erschaffen. Und wünschte sich, dass es so bleiben würde. Wenn, ja wenn er nicht dieses eine Versprechen gegeben hätte. Quasi einen Eid geleistet hätte, den er nicht zu brechen wagte.

Schwerfällig drückte er sich vom Stuhl hoch. Es half nichts, er musste diese vermaledeite Kiste finden. Und zwar möglichst schnell! Wenn er doch nur Marga danach fragen könnte, dachte er bekümmert. Früher hatte sich Marga immer um alles gekümmert. Hatte die Wohnung geschmückt, Adventsgebäck in den Ofen geschoben, mit den Freunden telefoniert und für jeden von ihnen eine To-do-Liste erstellt. Drei Tage vor der Abfahrt hatte sie das ins Wohnmobil getragen, was sie für ihr traditionelles Treffen benötigten. Hatte dafür gesorgt, dass alles perfekt ablief. Doch Marga war nicht mehr hier. An einem strahlend schönen Frühlingstag hatte sie plötzlich über Schwindel geklagt, sich mit der Hand an den Kopf gefasst und war umgefallen, hatte regungslos auf dem Wohnzimmerboden gelegen. All seine verzweifelten Versuche, sie zurück ins Leben zu holen waren fehlgeschlagen. Marga hatte ihn für immer verlassen. Und doch hörte er manchmal ihre Stimme, die zu ihm sprach. Gerade jetzt war sie besonders laut:
»Du weißt, was wir abgemacht haben«, mahnte sie.
»Ja, ja, ist schon klar«, murmelte er genervt.
»Wir haben uns gegenseitig versprochen, dass wir, sollte einem von uns etwas passieren, so wie bisher weitermachen werden. Dass wir das Leben genießen, nicht in ewiger Trauer und Verbitterung versinken werden. Und dass derjenige von uns, der übrig bleibt, auf keinen Fall das Wohnmobil verkauft.«
Klaus zuckte schuldbewusst zusammen. Woher konnte sie nur wissen, dass er tatsächlich vor Kurzem erwogen hatte, den 20 Jahre alten Concorde Liner auf einer der einschlägigen Plattformen zu inserieren? Weil er es nicht ertragen konnte, ohne Marga unterwegs zu sein.
»Du musst am Ball bleiben, darfst auf keinen Fall aufhören zu reisen«, drängte Marga. Ihre Stimme klang streng.
»Eine richtige Reise ist das ja nicht«, wagte er einzuwenden. »Nur ein Treffen unter Freunden zu Heiligabend.«
»Der wichtigste Termin im ganzen Jahr!« empörte sich Marga. Klaus konnte sie zwar nicht sehen, wusste jedoch aus jahrzehntelanger Erfahrung, dass sie jetzt den Zeigefinger in die Höhe hob. Keine seiner Ausreden gelten ließ. Marga war Grundschullehrerin für Deutsch und Sachkunde gewesen, kannte ihre Pappenheimer und wusste, wie sie sie zu nehmen hatte.
»Okay, okay«, gab er sich geschlagen. »Ich fahre hin. Aber nur wenn du mir sagst, wo du die Kiste mit der Weihnachtsdeko hingestellt hast. Weißt du, Susanne hat mich gestern angerufen, mir durch den Hörer beinahe das Ohr abgekaut. Sie hat sich bitter darüber beklagt, dass eine ihrer Krippenfiguren fehlt. Sie ist sich sicher, dass der Heilige Josef bei uns in der Kiste gelandet ist. Du erinnerst dich bestimmt: Susanne baut auf dem Armaturenbrett ihres auf Hochglanz polierten Vollintegrierten ja immer eine von kleinen LEDs erhellte Weihnachtslandschaft auf: mit einer Krippe, dem Stall, dem Jesuskind und den Heiligen Drei Königen samt einem treudoof dreinschauenden Kamel und dem Kometen, der oben von der Halterung für die Rückfahrkamera baumelt. Nicht mein Geschmack, wie du dich bestimmt erinnerst, aber ihr Herz hängt halt daran. Und jetzt bin ich schuld, weil ihre Weihnachtsdeko in diesem Jahr nicht komplett ist, einer der Hauptakteure fehlt. Also sag mir bitte: Wo hast du die Kiste versteckt?«
Er spitzte erwartungsvoll die Ohren. Aber seltsamerweise war Marga just in dem Moment verstummt, blieb ihm die Antwort schuldig. Klaus widerstand dem Impuls, wie ein trotziges Kind mit dem Fuß aufzustampfen. Stattdessen atmete er ein paarmal tief durch und setzte die Suche fort.

Als er von der Landstraße auf den Schotterweg abbog, konnte er sehen, dass die anderen sich bereits auf dem Stellplatz heimisch eingerichtet hatten. Bei Peter und Ankes Alkovenwohnmobil war die Markise ausgefahren und mit bunten Lichtlein geschmückt. Unter dem Schutzdach standen zwei Stühle und ein Tisch, die Stuhlkissen und die Tischdecke zierten galoppierende Rentiere und ein randvoll mit Geschenken beladener Schlitten. Auf der Kühlerhaube saß ein aufblasbarer Weihnachtsmann, der vom frischen Wind, der am Morgen aufgezogen war, gegen die Frontscheibe gedrückt wurde, wodurch er ungeduldig mit den Beinen zu strampeln schien. Der will auch weg, dachte Klaus düster. Für einen Moment erwog er, auf dem Platz eine Kehrtwende zu machen, das Gaspedal durchzudrücken und so schnell wie möglich zu verschwinden. Doch das Stück Wiese, das der ansässige Landwirt ihnen alle Jahre wieder gegen einen geringen Obolus zur Verfügung stellte, war zum Teil uneben, kleine tückische Senken verbargen sich unter dem dichten Grasbewuchs. Außerdem hatte es in den letzten Tagen geregnet. Keine guten Bedingungen, um mit seinem tief liegenden Liner einen Blitzabgang hinzulegen. Davon abgesehen hatten ihn die anderen bereits entdeckt. Peter und Anke kamen aus ihrem Wohnmobil gestürmt und wiesen mit Handzeichen auf die Stelle, zu der er fahren sollte. Als ob ich nicht wüsste, wo ich hinmuss, brummte er missmutig. Seit zehn Jahren trafen sie sich kurz vor Heiligabend auf diesem abgelegenen Stück Land und stellten ihre Wohnmobile u-förmig auf, sodass sie eine Art Wagenburg bildeten. Klaus und Marga standen immer auf der linken Seite, im rechten Winkel zum Wohnmobil von Peter und Anke und gegenüber von Susannes und Jens’ Vollintegriertem. Klaus schlug das Lenkrad ein, fuhr auf seinen angestammten Platz, stoppte den Motor und richtete sein Fahrzeug mithilfe der hydraulischen Hubstützen waagerecht aus. Dann erhob er sich mit ein wenig steifen Beinen vom Fahrersitz und schlurfte zur Aufbautür, die Anke schon aufgerissen hatte. Er war kaum ausgestiegen, da stürzte sie sich in seine Arme, hielt ihn fest an sich gepresst.
»Schön, dass du da bist«, murmelte sie in seinen dicken blauen Strickpullover. Dann verstummte sie, ihre Schultern bebten vor Weinen. Anke und Marga waren enge Freundinnen gewesen. Klaus musste selbst schwer schlucken, doch er drückte Anke sanft, aber bestimmt von sich.
»Wenn du weiter so viele Tränen vergießt, müssen wir gleich die Rettungsboote zu Wasser lassen«, versuchte er sich in einem müden Scherz.
Anke fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Tut mir leid. Aber sie fehlt mir so unendlich«, schniefte sie.
»Mir auch.« Klaus’ Stimme war rau.
Peter, Ankes Ehemann, war an seine Seite getreten und klopfte ihm etwas unbeholfen auf den Rücken. »Du weißt ja, dass wir immer für dich da sind.«
»Lieb von euch.« Klaus räusperte sich, um den Kloß im Hals loszuwerden. Und wünschte sich inständig, zu Hause in seinem Wohnzimmer zu sitzen. Wo er die Rollläden hinunterlassen und die Welt um sich herum ausschließen konnte. Aber er hatte keine Chance zu entkommen, denn schon standen auch Susanne und Jens, das dritte Paar ihres traditionellen Weihnachtstrios, vor ihm, forderten seine Aufmerksamkeit.
»Ich hab dein Lieblingsbier mitgebracht«, verkündete Jens. »Am besten, wir genehmigen uns gleich alle ein Schlückchen davon.«
»Nix Bier. Für uns drei Damen«, prustete Susanne heraus, die sich zum Mittagessen anscheinend ein, zwei Gläschen Wein genehmigt hatte, »gibt es echten schwedischen Glögg. Mit Rumrosinen. Den Glögg habe ich …« Die betretenen Gesichter um sie herum ließen sie kurz verstummen. »Den habe ich für Anke und mich schon zu Hause angesetzt«, vervollständigte sie ihren Satz mit leiser werdender Stimme und senkte die Augen.
»Lasst mich erst einmal richtig ankommen«, bat Klaus. »Ich muss noch die Heizung einschalten. Und Margas Weihnachtsdeko im Wohnmobil verteilen. Das erwartet sie von mir, sonst bekomme ich gleich Ärger.«
»Aber Marga ist doch …?« Susanne runzelte die Stirn. »Ich meine …«
»Marga würde sicher wünschen, dass Klaus es sich gemütlich macht«, unterbrach Anke sie resolut und gab Klaus einen kleinen aufmunternden Schubs. Er wandte sich von den Freun-den ab und ging zurück zum Wohnmobil. Für einen Moment schweifte sein Blick in den Winterhimmel, wo der Wind dicke, graue Wolken nach Westen schob. Die Sonne hatte sich den ganzen Tag nicht sehen lassen, doch plötzlich brach ein einzelner Lichtstrahl zartsilbern zwischen den Wolken hervor, brachte die regennasse Wiese zum Glitzern.
»Dein Wunsch sei mir ein Befehl«, murmelte Klaus so leise, dass es niemand hören konnte und machte sich an die Arbeit.

»Wer möchte das letzte Nackensteak?« Peter wies mit der Grillzange auf den Gasgrill. Das Trüppchen der Weihnachtsfreunde saß dick eingemummelt rund um einen Tisch, auf dem Salate, Beilagen und Grillsoßen verteilt waren.
»Also ich hätte lieber noch eine Scheibe Grillkäse«, bat Anke ihren Ehemann, der ihr das Gewünschte auf den Teller legte.
Jens drückte sich vom Stuhl hoch, strich sich kurz über das deutlich auszumachende Wohlstandsbäuchlein und schlurfte zum Grill. »Wenn keiner von euch das Steak will – ich opfere mich gern.«
Susanne verdrehte genervt die Augen. »Er kann es einfach nicht lassen«, beschwerte sie sich. »Da rede ich mir täglich den Mund fusselig, warne ihn vor gesättigten Fetten, Cholesterin und verstopften Arterien. Aber er ist ein Nimmersatt! Himmel, das wievielte Stück Fleisch verdrückt er da gerade?«
»Ich habe nicht mitgezählt. Wir haben schließlich Urlaub.« Jens bohrte die Gabel ins Steak.
»Seitdem wir in Rente sind, haben wir immer Urlaub. Aber das muss ja nicht bedeuten, dass wir uns geistig und körperlich gehen lassen«, erwiderte Susanne spitz.
»Sei doch nicht so streng«, schaltete sich Peter ein. »Gib dem armen Mann eine Chance, sein Mittagessen zu genießen.«
»Es ist schließlich Weihnachten«, fügte Anke hinzu.
»Nein.« Susanne ließ sich nicht so leicht besänftigen. »Heiligabend ist erst morgen.«
»Morgen ist ein gutes Stichwort«, meinte Anke. »Wir haben vorab nicht besprochen, wie wir es morgen halten wollen.«
Jens blickte vom Teller auf. »Na so wie immer, oder? Von mir aus müssen wir nichts ändern.«
»Nun ja, ich dachte …« Anke rang sichtbar mit den Worten. »Ich dachte, dass es womöglich besser ist, wenn wir es mal mit was Neuem versuchen. Weil wir das erste Mal ohne Marga feiern. Wir können doch nicht so tun, als ob alles beim Alten wäre.« Sie hielt einen Augenblick inne und wandte sich dann an Klaus. »Hast du vielleicht einen besonderen Wunsch?«
Klaus zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Früher hat sich, wie ihr wisst, Marga um alles gekümmert. Ich war mit Peter lediglich für die Getränke zuständig. Aber in diesem Jahr konnte ich mich nicht aufraffen, in den Supermarkt zu gehen und für das Treffen einzukaufen.«
»Ist doch verständlich, in deiner Situation.« Peter nickte mitfühlend. »Deshalb habe ich, ohne dich zu fragen, genügend Vorräte für die Feiertage besorgt. Die Getränke stehen in der Heckgarage bereit: der Sekt zum Anstoßen, das Weihnachtsbier und der Weißwein für Susanne und Anke.«
»Den Riesling haben wir von unserer Herbsttour durch die Pfalz mitgebracht. Da haben wir wieder bei unserem Lieblingswinzer einen Stopp eingelegt«, fügte Anke hinzu und berührte kurz Klaus’ Hand. »Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«
Klaus sah, dass alle Augen erwartungsvoll auf ihn gerichtet waren. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, fühlte sich unwohl, so im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen. Er spürte, wie ihm der Hals eng wurde. Was sollte er nur sagen? Ihm war völlig egal, was morgen auf dem Teller landete, sein Appetit ließ in den letzten Monaten eh zu wünschen übrig. Aber wenn er das einräumte, wären alle besorgt, er würde ihnen die Weihnachtsstimmung verderben. Deshalb versuchte er, sich herauszureden: »Ihr wisst ja, dass ich keine großen Ansprüche stelle. Für mich reichen Würstchen mit Kartoffelsalat.«
»Klasse Idee. Wie wäre es mit einem Wurstbuffet?«, schlug Jens kauend vor. »Ich meine so bayerische Weißwürste, Thüringer Rostbratwurst, kleine Nürnberger Bratwürste, italienische Salsiccia, französische Merguez.« Er zog nachdenklich die Stirn in Falten. »Was gibt es sonst noch an Sorten?«
»Vegetarische und vegane Bratwürste«, antwortete Susanne und sah ihren Mann vielsagend an. Der zog eine Grimasse.
»Ich habe schon vegane Würstchen probiert, die waren sehr lecker«, schlug sich Anke auf Susannes Seite.
»Ich bezweifele, dass es so etwas Trendiges hier in dem kleinen Landmarkt gibt«, wandte Peter ein. »Und denkt daran, wir müssen mit den Rädern dahinfahren, können also nicht körbeweise einkaufen.«
»Das müssen wir auch nicht. Ich habe wie immer eine gute Grundausstattung für Weihnachten in den Kühlschrank gepackt. Um auf der sicheren Seite zu sein«, sagte Anke.
»Unser Kühlschrank ist ebenfalls rappelvoll«, pflichtete Susanne ihr bei.
»Also ich habe Klöße und Rotkraut zubereitet, das hat in den Jahren zuvor allen geschmeckt.«
»Ich habe Kürbissuppe gekocht und in Gläser abgefüllt. Damit hätten wir die Vorspeise schon in petto«, verkündete Susanne.
»Der Bauer hat mir, als ich im Herbst die Stellplätze bezahlt habe, gesagt, dass sie auf dem Hof seit Neuestem einen Selbstbedienungsautomaten mit eigenen Produkten haben«, erinnerte sich Peter. »Vielleicht ist dort ja was dabei, das zu Rotkraut und Knödeln passt.«
»Was ist mit dem Dessert?«, wollte Jens wissen.
»Nee, oder? Der Mann ist unmöglich«, murrte Susanne.
»Ein Weihnachtsmenü ohne was Süßes geht überhaupt nicht«, stellte sich Anke auf Jens’ Seite. »Deshalb habe ich Mohnstollen gebacken. Der ist bestimmt nicht so gut wie der von Marga«, sie schenkte Klaus ein trauriges Lächeln, »aber Weihnachten ohne Stollen ist kein richtiges Weihnachten, oder?«
Klaus nickte. Das hatte Marga ebenfalls immer behauptet. Sie hatte den Mohnstollen nach einem alten schlesischen Familienrezept zubereitet, er zerging auf der Zunge. Aber auch diese Tradition hatte mit ihrem Tod ein Ende gefunden. Oder etwa nicht? »Wenn du möchtest, suche ich dir für nächstes Jahr Margas Rezept heraus. Ich glaube, sie hat es auf ihrem Laptop gespeichert«, hörte er sich sagen.
»Danke, das würde mir viel bedeuten.« Anke war sichtlich gerührt.
»Geht in Ordnung«, versprach Klaus und blickte kurz in den Himmel. Er war sich sicher, dass Marga ihm auf ihrer Wolke mit dem Daumen-hoch-Zeichen signalisierte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Bislang hatte er es tunlichst vermieden, sich um Margas digitale und analoge Hinterlassenschaften zu kümmern, die Schränke waren noch voll mit ihren Sachen. Er wusste nur zu gut, dass er sich der schmerzhaften Aufgabe des Aussortierens und Fortwerfens eher früher als später widmen müsste. Die Rezeptdatei in einem von Margas Computerverzeichnissen aufzuspüren und zu kopieren, würde ihn emotional nicht überfordern, damit wäre ein guter Anfang gemacht.
»Prima.« Anke drückte sich vom Stuhl hoch. »Wenn für morgen alles geklärt ist, sollten wir uns an den Abwasch machen.«
»Ich hole die Spülschüssel mit heißem Wasser«, bot Jens an.
»Ich trockne ab.« Klaus spürte, wie ein wenig von seinem früheren Tatendrang zurückkehrte. Und obwohl er eben noch ganz anders gedacht hatte, war er froh, hier unter Freunden zu sein, das Weihnachtsfest nicht alleine verbringen zu müs-sen.
»Los gehts.« Peter klatschte aufmunternd in die Hände und stellte die Teller zusammen. Susanne beförderte die Servietten und Essensreste in den großen Mülleimer, den sie neben dem Wohnmobil aufgestellt hatten. Dann hielt sie inne und blickte in Richtung der Schotterstraße.
»Was ist das für ein Geräusch?«
»Motorenlärm«, antwortete Anke perplex.
»Vielleicht der Bauer, der auf eins seiner Felder fährt«, meinte Klaus.
»Das hört sich nicht nach einem Traktor an. Das ist ein Auto … nein, das müssen mehrere Autos sein«, widersprach Jens.
In dem Moment rutschte Susanne die Kinnlade nach unten. »Seht doch, da kommen Wohnmobile angefahren!«
»Eins, zwei, drei Stück«, zählte Anke fassungslos.
»Aber das ist unser Platz«, empörte sich Peter. »Das hat mir der Bauer extra am Telefon bestätigt. Schließlich kommen wir schon seit Jahren hierher. Was wollen die auf unserem Weihnachtsplatz?«
»Womöglich haben sie sich verfahren?« Anke klang nicht überzeugt.
Die drei Wohnmobile – zwei bunt bemalte Vans und ein altes Hymermobil – erreichten die Wiese, drehten rumpelnd eine kurze Runde und kamen nebeneinander zum Stehen. Die Türen öffneten sich und die Insassen sprangen heraus.
»Frohe Weihnachten«, rief eine Frau mit langen braunen Dreadlocks ihnen fröhlich entgegen. »Ihr habt doch nichts dagegen, wenn wir über die Feiertage hier stehenbleiben, nicht wahr?«

»Selbstverständlich haben wir was dagegen«, wollte Klaus empört antworten. Da hatte er gerade einen Teil seines Seelenfriedens wiedergefunden, fühlte sich in der Gegenwart seiner Freunde geborgen, da machten sich diese Neuankömmlinge an, ihm alles zu vermiesen. Nein, er konnte jetzt keine fremden Menschen um sich ertragen. Haut ab schimpfte er innerlich.
Auch seine Freunde schienen über die Wendung, die der Verlauf der Feiertage anzunehmen drohte, nicht erfreut zu sein. Jens stand wie angewurzelt mit der Spülschüssel in der Hand unter der Markise. Anke kaute nachdenklich auf der Unterlippe. Susanne warf den Eindringlingen – zwei Frauen und zwei Männer – einen bitterbösen Blick zu. Nur Peter hatte sich wieder einigermaßen gefasst, wandte sich der Frau, die sie angesprochen hatte, mit einem höflichen Lächeln zu.
»Nun ja, es ist so«, sagte er und räusperte sich. »Wir sind eigentlich davon ausgegangen, Weihnachten unter uns zu verbringen. Das machen wir seit Jahren so. Bauer Bokel, der uns diese Wiese zur Verfügung stellt, weiß das. Ich glaube nicht, dass er einverstanden ist, wenn Sie ohne seine Genehmigung hier parken. Das ist ja kein öffentlicher Stellplatz, sondern Privatgelände.«
»Genau. Wir haben eine Sondergenehmigung. Die nur für uns gilt.« Susanne straffte kämpferisch die Schultern.
Die Frau mit den Dreadlocks ließ die Tür ihres gelben VW-Bullis, der mit bunten Blumenstickern in allen Größen beklebt war, ins Schloss fallen und kam auf sie zu. Sie trug eine grasgrüne Yogahose und einen roten Strickpullover. Ihre Füße steckten in Lederstiefeletten mit Fransen. Von Weiten hatte Klaus die Frau aufgrund ihrer Kleidung und ihres Auftretens auf höchstens fünfundzwanzig geschätzt, doch beim Näherkommen erkannte er, dass sie die Vierzig schon überschritten haben musste. Auch ihre Begleiter waren mittleren Alters. Das Pärchen, das aus dem zweiten, mit dem Peace-Zeichen bemalten Bus ausgestiegen war, war in Jeans und dicke Daunenjacken gekleidet. Der Mann hatte das Haar wie seine Partnerin sehr lang wachsen lassen, sein Gesicht zierte ein von silbernen Strähnen durchsetzter Vollbart, der ihm bis über das Kinn reichte. Bunt gewobene Bänder in allen Regenbogenfarben schlangen sich um seine Handgelenke. Der zweite Mann, der, wie es aussah, alleine in einem Hymermobil mit H-Kennzeichen unterwegs war, hatte ebenfalls einen Bart, aber der war gestutzt und der Mann war kahlköpfig. Auf Klaus wirkten die Störenfriede wie Althippies auf einem Roadtrip. Er schnupperte, war sich sicher, dass er Haschisch von einem Joint riechen würde. Doch die Frau duftete dezent nach einem blumigen Duschgel, wie es auch Marga verwendet hatte. Ihr Lächeln hatte sich abgeschwächt, sie wirkte ein bisschen auf der Hut, blieb etwa anderthalb Meter vor der Gruppe der Weihnachtsfreunde stehen.
»Wir wollen nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Schon gar nicht zu Weihnachten«, erklärte sie. »Aber wir haben wie ihr das Recht hierzubleiben.«
Jens stellte die Spülschüssel auf dem Tisch ab, drückte die Brust raus. »Ach ja?«, fragte er provozierend. »Das würde ich gerne genauer wissen.«
Die Frau mit den Dreadlocks ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche. »Sicher doch. Am besten ist, wir rufen kurz meinen Onkel an, um das zu klären.«
»Was hat Ihr Onkel damit zu tun?« Susanne stellte sich neben ihren Mann.
»Ihm das gehört das Land hier. Sein Besitz reicht bis über die Hügel da hinten.«
»Klar und ich bin der Weihnachtsmann«, feixte Jens.
»Schluss jetzt!« Anke baute sich vor den Freunden auf und funkelte sie wütend auf. »Seid doch nicht so unhöflich! Auf der Wiese ist genügend Platz für uns alle.«
»Zu Weihnachten ist das unsere Wiese«, beharrte Susanne und schob die Unterlippe störrisch vor.
»Das stimmt so nicht«, sagte die Frau mit den Dreadlocks sanft. »Die Wiese gehört meinem Onkel – Bauer Bokel. Und der hat nichts dagegen, wenn wir die Feiertage auf seinem Gelände verbringen.«
»Warum hat er uns bei unserem letzten Telefonat nicht vorgewarnt?«, wunderte sich Peter.
»Wir haben uns spontan entschieden, hierher zu kommen«, antwortete die Frau. »Eigentlich wollten wir von München aus in einem Stück bis zur Ostsee durchfahren. Aber dann haben wir gemerkt, dass die meisten Stellplätze am Meer schon seit Wochen komplett ausgebucht sind.«
Der glatzköpfige Mann war ebenfalls nähergekommen, stellte sich neben die Frau mit den Dreadlocks. »Die letzten Monate waren für uns alle sehr stressig. Wir haben dringend ein bisschen Ruhe nötig. Diese abgelegene Wiese ist ideal für uns.«
Für uns auch, dachte Klaus bockig. Nein, ich will diesen Platz mit niemandem außer meinen Freunden teilen. Plötzlich spürte er einen kurzen stechenden Schmerz, als ob ihm jemand in die Seite gekniffen hätte. Vorwurfsvoll wandte er sich nach links, wollte den Schuldigen zurechtweisen. Doch alle seine Freunde standen rechts von ihm. Klaus rieb sich die schmerzende Stelle. Ihm kam ein Verdacht. »Marga?«, fragte er lautlos.
»Sei nicht so ein alter arroganter Trottel«, glaubte er ihre Stimme zu hören. »Lass die jungen Leute doch ihr Ding machen, hier steht niemand über dem anderen. Ihr seid schließlich alle Camper. Und wer weiß, vielleicht wirst du später froh sein, dass sie gekommen sind.«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, brummte Klaus. Doch er machte vorsichtshalber einen Schritt zur Seite, damit Marga ihn nicht noch ein zweites Mal zwicken konnte.
In der Zwischenzeit war Anke auf die Neuankömmlinge zugegangen und stellte die Freunde mit ausgestreckter Hand vor. »Mein Mann Peter. Wir sind mit dem Alkovenwohnmobil da drüben unterwegs und kommen aus Heidelberg. Susanne und Jens sind aus Stuttgart, Klaus aus Frankfurt.«
»Ich bin Tascha, kurz für Natascha«, sagte die Frau mit den Dreadlocks, die ihr Lächeln wiedergefunden hatte. Sie wies auf das Pärchen, das ein Stück hinter ihr stand, dann auf den Mann neben ihr: »Fiene, Henrik und Mike.«
»Richtet euch mit euren Womos doch erst einmal häuslich ein«, schlug Anke vor. »Wenn ihr Lust habt, können wir heute Abend gemeinsam einen Glühwein trinken. Susanne hat Glögg mitgebracht, nicht wahr?« Anke schaute die Freundin heraus-fordernd an.
Susanne hielt die Arme vor der Brust verschränkt, ließ sich aber nach ein paar Sekunden dazu herab, bejahend zu nicken.
»Ich hätte noch eine Bitte«, sagte Tascha. »Hat jemand von euch ein Verlängerungskabel, damit ich mich an den Strom anschließen kann? Mein Onkel hat mir eben gesagt, dass er die Wiese im vorletzten Jahr mit einer Stromsäule ausgestattet hat. Aber ich habe meine Kabeltrommel zu Hause gelassen, wir mussten so Holter die Polter aufbrechen.«
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Dann sprang Klaus über seinen eigenen Schatten. »Ich habe ein Ersatzkabel bei mir im Liner, das kann ich dir gern leihen.«
»Danke.« Tascha strahlte.
In dem Moment spürte Klaus einen warmen Hauch auf seiner Wange. Es fühlte sich an, als ob Margas Lippen ihn gestreift hätten.
»Ich stehe da vorne«, sagte er und setzte sich mit Tascha in Bewegung.

Der Weihnachtstag dämmerte. Klaus rollte sich auf der Matratze schlaflos von einer Seite auf die andere. Gestern Abend war er todmüde in sein komfortables Bett im Heck gefallen, doch die Gedanken, die wie ein Karussell in seinem Kopf kreisten, hatten ihn die wohlverdiente Nachtruhe gekostet. So viel war in den letzten Monaten passiert, fast sein ganzes Leben war von einer Minute auf die andere umgekrempelt worden – ohne Marga fand er sich darin nicht mehr zurecht. Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Mit einem Stöhnen setzte er sich auf, heute glaubte er, jeden einzelnen Knochen in seinem Körper zu spüren. Und um neun Uhr hatten sie verabredet, mit den Rädern zum Hofladen von Bauer Bokel zu fahren. Klaus graute davor. Am liebsten hätte er sich die Decke über den Kopf gezogen und wäre die nächsten drei Tage im Bett geblieben. Aber es half nichts, er wollte sich vor den Freunden keine Blöße geben, wollte ihnen nicht das Fest verderben. Müde setzte er sich auf und schlurfte ins Bad, wo er schnell duschte. Eiskalt, um sein Gehirn und seine Zellen aufzuwecken. Danach kochte er sich einen starken Kaffee, den er in kleinen Schlucken trank. Als es um kurz vor neun an seiner Aufbautür klopfte, war er zumindest äußerlich bereit. Er setzte ein Lächeln auf und öffnete die Tür, vor der Susanne stand. Sie hatte eine rote Strickmütze mit weißem Bommel auf dem Kopf, ihre Wangen hatten wegen der frischen Außentemperaturen dieselbe Färbung wie ihre Kopfbedeckung angenommen. Mit dem grünen Parka und den roten Fäustlingen wirkte sie wie die Frau vom Nikolaus.
»Guten Morgen. Hast du auch so mies geschlafen?«, begrüßte sie den Freund.
»Nein«, flunkerte Klaus. »Mein Kopf lag kaum auf dem Kissen, da war ich schon eingeschlummert. Hast du aus Vorfreude auf die Geschenke, die dir der Weihnachtsmann heute bringen wird, nicht schlafen können?«
»Ach was. Aus dem Alter bin ich seit Ewigkeiten raus«, erwiderte Susanne. »Jens und ich sind vor Jahren übereingekommen, uns den Stress mit dem albernen gegenseitigen Schenken zu ersparen. Wir haben im Februar ein paar Tage auf einem Wellness-Campingplatz am Hopfensee gebucht, das wird uns beiden guttun.«
»Super Idee«, meinte Klaus und schlüpfte in seine Jacke.
»Mich haben die da drüben wachgehalten«, empörte sich Susanne und wies mit dem Kopf in Richtung der zwei VW-Busse und des Hymermobils.
»Warum?«
»Diese schreckliche Klimperei auf der Gitarre«, stöhnte Susanne. »Hätten die nicht wenigstens ein bisschen Rücksicht auf uns nehmen können? Warum haben sie ihren Musikabend draußen abgehalten, haben die halbe Nacht an der Feuerstelle gehockt?«
»Weil es dort romantischer ist?«
»Pah.« Susanne setzte einen verächtlichen Gesichtsausdruck auf. »Und dann der langhaarige Typ mit dem Bart. Hat ein Weihnachtslied nach dem nächsten geträllert, alle auf Englisch. Schrecklich.«
Ich habe ihm gern zugehört, dachte Klaus, behielt seine Gedanken aber für sich.
»Jens hat gemeint, der sieht aus wie der leibhaftige Jesus.« Susanne kicherte. »Oder wie der Heilige Josef im Krippenspiel. Vielleicht könnte ich ihn ja schrumpfen und für mein Weihnachtsdorf auf dem Armaturenbrett nutzen. Meine Holzfigur ist wie vom Erdboden verschluckt, bei dir in der Kiste war sie auch nicht. Auf diese Weise wäre der Typ wenigstens zu irgendetwas nützlich. Diese Althippies können sich doch nur durchs Leben schnorren, beziehen Bürgergeld, das hart arbeitende Leute wie wir durch ihre Steuern aufbringen müssen. Allein beim Gedanken daran bin ich auf 180.«
Klaus merkte, wie ihm der Kaffee, den er eben getrunken hatte, sauer die Speiseröhre hinaufstieg. War Susanne immer so engstirnig und gemein gewesen? Hatte sie schon früher auf andere hinabgeschaut, die ein Lebensmodell verfolgten, das nicht mit ihrem übereinstimmte? Okay, ein bisschen musste er sich diesbezüglich selbst an die eigene Nase fassen: Auch er war anfänglich nicht erfreut gewesen, als die vier Neuankömmlinge auf dem Platz aufgetaucht waren. Hatte ebenfalls mit Vorurteilen und Klischees zu kämpfen gehabt. Aber nicht nur Margas Seitenhieb hatte ihn zurück auf den Boden der Tatsachen gebracht. Leben und leben lassen, das war immer Margas und sein Motto gewesen. Statt sofort zu kritisieren, erst einmal in Ruhe zuhören, dem Gegenüber eine Chance geben, sich zu erklären. Offen für Neues bleiben, unterschiedliche Meinungen zulassen, dafür waren sie immer eingetreten. Und davon ließe er sich auch jetzt nicht abbringen, er wollte auf keinen Fall so biestig und verbohrt wie Susanne enden.
»Du weißt doch gar nichts über die Leute da drüben«, kritisierte er. »Ich habe mich gestern ein bisschen mit Tascha unterhalten und fand sie sehr nett. Humor und Witz hat sie auch«, konnte er sich nicht verkneifen.
»Jedem das Seine«, erwiderte Susanne spitz. »Ich für meinen Teil möchte mit denen keinen Kontakt haben. Ich habe Angst, dass sie uns die Weihnachtsfeier vermiesen.«
»Wir könnten sie ja dazu einladen«, schlug Klaus vor.
»Das meinst du doch nicht im Ernst!« Susanne schaute ihn entgeistert an.
»Also ich hätte nichts dagegen, wenn wir den Heiligabend gemeinsam mit ihnen verbringen.«
»Das hast du nicht allein zu bestimmen«, ereiferte sich Susanne. »Das müssen wir zuerst mit den anderen diskutieren. Und dann können wir von mir aus abstimmen. Ich kann mir schon denken, wie die Entscheidung ausgeht«, fügte sie selbstgefällig hinzu.
Ich mir auch, dachte Klaus und unterdrückte ein Seufzen. Er war sich sicher, dass Susanne und Jens es schaffen würden, Peter und Anke auf ihre Seite zu ziehen.
»Was ist? Wollen wir allmählich los?«, drängte Susanne.
Mit einem Klick auf die Funkfernbedienung verriegelte Klaus sein Wohnmobil und schob sein Rad, das er schon gestern aus der Heckgarage geholt hatte, auf die Gruppe seiner Weihnachtsfreunde zu. In Weihnachtsstimmung war er nicht. Ganz im Gegenteil.

Ein paar Stunden später hatte er seine Einkäufe im Kühlschrank verstaut und überlegte, wie er die Zeit bis zur Weihnachtsfeier überbrücken könnte. Früher hatten Marga und er bei einer Tasse Tee im Liner zusammengesessen, hatten geredet und das sich dem Ende zuneigende Jahr Revue passieren lassen. Weihnachtsmusik war leise aus dem Radio erklungen und Marga hatte die kleinen sternförmigen Lichterketten eingeschaltet, die sie überall im Wohnmobil aufgehängt hatte. Oft hatten sie einander schweigend an den Händen gehalten, das Zusammensein ohne viele Worte genossen. Klaus spürte, wie sich die Einsamkeit bleiern auf seine Brust legte, ihm das Atmen schwer machte. Vielleicht sollte er schnell einen Schnaps hinunterkippen, um die Anspannung durch Hochprozentiges zu lösen? Besser nicht, ermahnte er sich, heute würde er im Laufe des Abends sicherlich das eine oder andere Bier trinken und vor dem Essen würden sie mit Sekt anstoßen. In seinem Alter vertrug er den Alkohol nicht mehr so gut. Er setzte den Wasserkessel auf den Gasherd, um sich eine Kanne Tee zu kochen. Er wollte gerade den ersten Schluck aus der Tasse nehmen, da klopfte es an der Tür. Er warf einen Blick auf die Uhr. War es schon an der Zeit, hatte er sich verspätet? Nein, bis zum gemeinsamen Essen blieben ihm noch knapp zwei Stunden. Seine Freunde säßen sicherlich gemütlich in ihren Wohnmobilen, würden sich zu zweit entspannen. Benötigte etwa jemand von ihnen Hilfe?

Vor dem Wohnmobil stand Tascha. Obwohl die Außentemperatur bis fast auf den Gefrierpunkt gefallen war, trug sie nur Jeans und T-Shirt, ihre nackten Füße steckten in abgewetzten Holzclogs. In ihrem geflochtenen Haar hatten sich ein paar Regentropfen verfangen, ihre Nase war gerötet.
»Was machst du bei der Kälte ohne Jacke da draußen?«, entfuhr es ihm. »Komm rein, sonst holst du dir noch den Tod.«
Tascha streifte ihre Clogs auf der ersten Innenstufe ab und rieb sich über die Arme, auf denen sich Gänsehaut gebildet hatte. »Ich bin diese Temperaturen gar nicht mehr gewöhnt.«
»Möchtest du einen Tee, ich habe gerade eine Kanne aufgebrüht«, bot Klaus an.
Tascha zögerte einen Moment, dann lächelte sie. »Wenn ich dich nicht störe oder aufhalte – gern.«
»Nimm Platz.« Klaus wies mit der Hand auf die Sitzgruppe aus hellgrauem Leder. Er goss Tee in eine zweite Tasse und stellte sie vor Tascha auf dem Tisch ab. »Zucker? Milch?«
Tascha schüttelte verneinend den Kopf.
»Ich habe leider keine Kekse. Die habe ich beim Einkaufen total vergessen«, entschuldigte er sich und nahm auf der Sitzfläche gegenüber Platz.
»Kein Problem. Ehrlich gesagt hasse ich diese sinnlose Völlerei an den Feiertagen. Besonders seitdem ich …« Sie verstummte und blies in die dampfende Tasse, um den Tee schneller abzukühlen.
Klaus gab ein wenig Kandis in seinen Tee und rührte eine Weile schweigend um, nur das Anschlagen des Löffels gegen die Tasseninnenseite war zu hören.
Tascha räusperte sich. »Warum ich hier bin«, begann sie.
»Ja?« Klaus hörte auf zu rühren.
»Wir wollten euch nicht in die Quere kommen«, beteuerte sie. »Wenn wir gewusst hätten, was für hohe Wellen unsere Ankunft bei eurem Trüppchen schlagen würden, hätten wir uns einen anderen Platz ausgesucht. Wären womöglich hinter der Scheune stehen geblieben. Aber mein Onkel hat gemeint, dass ihr völlig unkompliziert wäret, dass ein paar Camper mehr auf der Wiese euch nicht stören würden.«
Klaus zog eine Grimasse. Einerseits aus Verlegenheit, andererseits, weil sein Magen ihm zusetzte, in dem es rumorte. Doch er war Tascha eine Antwort schuldig. »Normalerweise ist das bei uns auch so, wie dein Onkel gesagt hat«, versicherte er. »Aber Weihnachten ist halt etwas Besonderes. Wir haben das Fest in den letzten Jahren immer zu sechst verbracht, das war unsere Weihnachtstradition.« Er verstummte für ein paar Sekunden, fuhr dann mit leiser Stimme fort, fast als spräche er nur zu sich selbst. »Womöglich waren wir naiv, haben geglaubt, dass es für alle Ewigkeit so bleiben würde. Aber das Schicksal hat uns gezeigt, wie falsch wir lagen. Die einen kommen, die anderen gehen«, meinte er bitter. Das Magendrücken war deutlich stärker geworden.
Tascha blickte ihn über den Rand ihrer Teetasse mitfühlend an. »Wer ist gegangen?«
»Marga, meine Frau.«
»Das tut mir leid.« Tascha berührte kurz seinen Unterarm.
»Ich vermisse sie jeden Tag, aber ich kann sie nicht zurückholen.« In Klaus’ Brust machte sich ein seltsames Gefühl breit, sein Herz schien mit einem Mal doppelt so viel Platz wie normal einzunehmen. In seinen Ohren rauschte es, auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen.
»Ist dir nicht gut?« Tascha sprang so heftig auf, dass der Tee in ihrer Tasse überschwappte.
»Ich weiß nicht.« Klaus schüttelte den Kopf, um das Rauschen loszuwerden. Doch es half nicht, es wurde schlimmer.
»Streck dich auf der Bank aus.« Tascha war an seiner Seite, drückte ihn sanft, aber bestimmt in die Horizontale, schob ihm ein Kissen unter den Kopf. Ergriff sein Handgelenk, wo sie nach dem Puls tastete. Mit vor Konzentration gerunzelter Stirn zählte sie die Pulsschläge. Schließlich legte sie seine Hand auf seinen Bauch.
»Bist du herzkrank? Nimmst du Medikamente?«
Klaus wollte antworten, doch er bekam nur schwer Luft, sein Hals schien wie zugeschnürt.
»Hattest du schon mal einen Herzinfarkt? Oder einen Angina-Pectoris-Anfall?«
»Nein«, brachte er mühsam hervor. »Ich war … vor Kurzem … beim Gesundheitscheck. Alles im … grünen Bereich.«
Tascha beugte sich über ihn, ihre braunen Dreadlocks berührten sein Gesicht. Sie schaute in seine Augen, fuhr im über die Stirn.
»Muss ich sterben?«
Tascha fühlte nochmals nach seinem Puls, diesmal an der Halsschlagader. Ihre Finger waren warm und kompetent. Klaus merkte, wie er sich ein bisschen entspannte. Sein Herz klopfte nicht mehr so verrückt wie vor drei, vier Minuten.
Taschas Lippen verzogen sich zu einem leisen Lächeln. »Nein, du bleibst uns noch eine Weile erhalten. Wirst auch Weihnachten heute feiern können.«
»Was ist mit mir?« Klaus spürte, wie Angst seinen ganzen Körper durchflutete.
»Setz dich mal wieder auf«, befahl Tascha, drückte ihn vom Kissen hoch, schob seine Beine von der Sitzbank. »Schau mich an, wir machen gemeinsam eine Atemübung.«
Wie denn, ich bekomme doch so schon kaum Luft, wollte Klaus protestieren, aber Tascha streckte den rechten Zeigefinger in die Höhe. So wie Marga es immer getan hatte, wenn sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Klaus starrte auf den Finger.
»Wir atmen jetzt vier Sekunden durch die Nase ein, halten die Luft sieben Sekunden an und atmen acht Sekunden kräftig durch den Mund wieder aus«, erklärte Tascha. »Ich mache das mal vor: Vier-sieben-acht. Und nun wir beide gemeinsam: Vier-sieben-acht.«
»Vier-sieben-acht. Vier-sieben-acht.« Klaus gab sich alle Mühe, Taschas Anweisungen zu folgen.
»Sehr gut, weitermachen!«, befahl Tascha. »Und nicht wundern, ich schaue mal in deinen Kühlschrank.«
»Vier-sieben-acht. Vier-sieben-acht.« Klaus gab sich ganz dem Atemrhythmus hin. Und sah aus den Augenwinkeln, wie Tascha eine Tüte Tiefkühlerbsen aus dem Gefrierfach nahm. Wollte sie etwa kochen? Halfen grüne Erbsen gegen Herzrasen und Atemnot?
»Weiter atmen.« Tascha griff nach seiner rechten Hand und legte die Packung Erbsen auf seine ausgestreckte Handfläche, schob die linke Hand darüber. Klaus zuckte wegen der Kälte zusammen, wollte die Erbsen instinktiv von sich stoßen.
»Nein, festhalten und weiter atmen. Vier-sieben-acht.« Taschas Stimme duldete keinen Widerspruch.
Klaus tat wie ihm geheißen. Zu seiner Verwunderung ließ der Druck im Magen und auf dem Brustkorb allmählich nach, auch das Atmen fiel ihm leichter.
»Der Kältereiz als Ablenkung hat funktioniert. Ausgezeichnet.« Tascha nahm ihm die Erbsen ab, legte sie zurück ins Gefrierfach.
»Himmel Herrgott, was war das?«, fragte Klaus ängstlich.
Tascha strahlte nach wie vor Souveränität aus. »Im ersten Moment hast du mir einen gehörigen Schrecken eingejagt«, gestand sie. »Ich war drauf und dran, einen Krankenwagen zu rufen. Aber dann habe ich gemerkt, dass du eine Panikattacke hast.«
»Ich? Eine Panikattacke? Kann nicht sein!«
»Oh doch«, widersprach Tascha. »Alle Umstände und auch die Symptome sprechen dafür: Du hattest in den letzten Monaten eine Menge Stress, trauerst um deine Frau, hast dich nicht gut um dich selbst gekümmert …«
»Na ja, wie das halt so ist, wenn man nach vielen Ehejahren dann allein zurückbleibt«, versuchte Klaus sich zu rechtfertigen.
»Und von einem Moment auf den anderen hattest du ein Engegefühl in der Brust«, fuhr Tascha fort. »Dein Herz fing an zu rasen, dir wurde flau im Magen und dir war heiß. Am liebsten wärest du rausgestürmt, vom Wohnmobil weggerannt, konntest es aber nicht, weil du unfähig warst, auch nur einen Finger zu rühren.«
»Woher weißt du das?« Klaus schaute Tascha verblüfft an.
»Das sind alles die klassischen Anzeichen eines Panikanfalls. So etwas fühlt sich allerdings meist schlimmer an, als es tatsächlich ist.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«, wunderte sich Klaus.
»Ich bin Ärztin«, antwortete Tascha. »Fiene, Henrik, Mike und ich, wir kommen alle aus dem medizinischen Bereich. Mike ist Rettungssanitäter, Fiene Hebamme und Henrik Osteopath.«
Klaus blickte betreten zu Boden, wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Scham stieg in ihm auf. Er hatte Tascha und ihre Begleiter total falsch eingeschätzt, sich von Äußerlichkeiten blenden lassen. Und Susanne hatte sogar behauptet, sie wären Sozialschmarotzer. Nur weil sie andere Kleider und andere Frisuren trugen, mit anderen Wohnmobilen als er selbst und seine Freunde unterwegs waren. Wie einfältig und blind sie doch gewesen waren! »Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll«, sagte er verlegen.
Tascha steckte ihr Handy, auf dem sie herumgetippt hatte, zurück in die Hosentasche. »Ach was, mach dir keinen Kopf«, beruhigte sie ihn. »Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte. Ich habe aber gerade Henrik gebeten, den Notfallrucksack zu uns rüberzubringen. Ich würde dich gern noch mal kurz durchchecken, um sicherzugehen, dass wirklich alles in Ordnung ist. Und nach den Feiertagen solltest du unbedingt einen Termin bei deinem Hausarzt machen, ihm schildern, was passiert ist und mit ihm überlegen, was du tun kannst, um weiteren Attacken vorzubeugen.«
»Mache ich«, versprach Klaus und glaubte ein Klopfen auf der rechten Schulter zu verspüren, so als ob Marga ihre Zustimmung signalisiert hätte.
Die Aufbautür öffnete sich und ein kahlköpfiger Mann übergab Tascha einen roten schweren Rucksack.
»Tut mir leid, aber da sind keine Geschenke drin«, sagte er mit einem Grinsen zu Klaus. »Die Bescherung findet erst später statt.«
»Aber ich bin schon beschenkt worden. Reichlicher als ich jemals gedacht hätte«, erwiderte Klaus ernst.
Mit einer lässigen Handbewegung warf Tascha ihre langen Dreadlocks über die Schulter. »Hier kommt jetzt das Christkind mit dem Stethoskop«, sagte sie lachend. »Mal hören, ob dein Herz schon in Weihnachtsstimmung ist.«
»Es ging ihm lange nicht mehr so gut wie im Moment.« Klaus zwinkerte dem glatzköpfigen Mann zu.
Der zwinkerte gut gelaunt zurück. »Pass bloß auf! Mit dem Stethoskop in der Hand ist Frau Doktor unwiderstehlich. Mit der Masche verdreht sie allen männlichen Patienten den Kopf. Ich bin übrigens Mike«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
»Klaus.«
»Schluss ihr beiden!«, rief Tascha. »Das hier ist eine ernste medizinische Konsultation und keine Weihnachtskomödie. Wenn ihr nicht auf der Stelle ruhig seid, hole ich die Rute aus dem Rucksack!«
Mike verdrehte betont übertrieben die Augen. Klaus kicherte. Obwohl sein Herz wieder viel zu schnell pochte. Aber dieses Mal aus purer Lebensfreude.

»Himmel, ich bin pappsatt, bekomme keinen Bissen mehr runter«, stöhnte Anke und schob den Teller von sich. Sie saßen alle in fröhlicher Runde in Klaus’ Liner.
»Ich habe auch viel mehr gegessen, als ich wollte.« Fiene strich sich genüsslich über den Magen.
»Deine panierten Fleischkügelchen sind zum süchtig werden«, bekundete Jens und rieb sich die Lippen mit einer Serviette ab. »Wie heißen die noch mal?«
»Bitterballen«, antwortete Fiene. »Eine Spezialität aus meiner Heimat. Alle in den Niederlanden sind verrückt nach Bitterballen.«
»Wir müssen demnächst unbedingt nach Holland fahren«, wandte sich Jens an seine Frau.
»Mal sehen«, antwortete Susanne ausweichend. Sie schien die Einzige zu sein, die an diesem Abend keinen Spaß hatte. Ihr Gesicht wirkte verschlossen, die Mundwinkel hingen sauertöpfisch nach unten. Selbst schuld dachte Klaus, nahm ein Stück Fladenbrot und tunkte es in den Bohneneintopf, den Tascha mitgebracht hatte.
»Das ist auch sehr lecker«, bekundete er. »Ich hätte nicht gedacht, dass mir gekochte Bohnen so gut schmecken, aber die sind köstlich. Ich kann gar nicht aufhören, davon zu essen.«
»Meine Freundin, eine sudanesische Krankenschwester, hat mir gezeigt, wie Ful, das Nationalgericht, zubereitet wird«, sagte Tascha, die vom Wein ein leicht gerötetes Gesicht hatte.
»Wie lange seid ihr im Sudan gewesen?«, wollte Peter wissen.
»Über ein halbes Jahr«, antwortete Henrik. »Eigentlich wollten wir noch ein paar Monate bleiben. Aber das Flüchtlingscamp wurde von Rebellen beschossen, die Bewohner und auch wir mussten fliehen, um unser Leben zu retten.«
»Mich hat eine Kugel nur knapp am Arm verfehlt.« Mikes Gesicht wurde düster. »Ein sudanesischer Arzt, mit dem ich auf der Kinderstation zusammengearbeitet habe, hatte nicht so viel Glück. Bauchschuss. Ich weiß nicht, ob er überlebt hat.«
»Die Lage eskalierte von einem Tag auf den anderen, wir mussten schauen, dass wir so schnell wie möglich ausgeflogen werden«, erklärte Tascha. »In Deutschland angekommen merkten wir, dass wir nach den Erfahrungen im Camp nicht so mir nichts, dir nichts Weihnachten feiern konnten. Deshalb hatte Mike die Idee mit den Wohnmobilen. Ich habe den alten VW-Bulli meiner Eltern, der in einer Garage eingemottet war, wieder flottgemacht. Fiene und Henrik haben sich den Bus von Fienes Bruder ausgeliehen.«
»Ich habe das Hymermobil schon vor zehn Jahren gekauft und bin damit immer im Urlaub unterwegs«, sagte Mike. »Das ist sozusagen mein Fluchtmobil.«
»Wenn uns alles zu viel wird, entfliehen wir mit dem Wohnmobil manchmal auch dem Alltag«, sagte Anke. »Aber das ist natürlich was ganz anderes als bei dir, du wirst in deinem Job täglich viel mehr gefordert als wir. Peter und ich jammern da auf sehr hohem Niveau.«
»Ach, ist doch egal, warum wir unterwegs sind. Hauptsache, wir sitzen so nett zusammen, schlagen uns die Bäuche voll und stoßen gemeinsam an.« Henrik hob sein Glas.
»Auf unser Festessen!« Fiene prostete ihnen zu. »Für mich war es das schönste Weihnachtsessen seit Langem. Auch weil jeder seinen Teil dazu beigetragen hat.«
»Frohe Weihnachten. Euch allen ein gesegnetes Fest«, sagte Anke.
»Frohe Weihnachten«, echoten die anderen.
»Wie geht es dir?«, wandte sich Peter an Klaus. »Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht.«
Klaus setzte sein Glas ab, spürte kurz in sich hinein. »Es geht mir gut«, versicherte er schließlich. »Besser als ich gedacht hätte. Wisst ihr, ich hatte wochenlang Angst vor diesem Tag, wollte mich am liebsten verkriechen. Aber jetzt bin ich froh, dass ich mich anders entschieden habe und mit euch feiere.«
»Auf deine Frau«, trank Tascha ihm zu.
»Auf Marga.« Klaus hob sein Glas zur Decke. Wo immer Marga heute sein mochte – er hatte das Gefühl, dass es ihr gut ging. Und dass sie trotz allem noch ein bisschen bei ihm war.

Anke ließ heißes Wasser in die Spüle einlaufen, begann, die Teller abzuwaschen, und schaute dabei aus dem Küchenfenster. »Seht mal«, rief sie plötzlich. »Es schneit.«
Henrik sprang auf, schien so aufgeregt wie ein kleiner Junge. »Ich habe seit Ewigkeiten keinen Schnee gesehen. Lasst uns einen Schneemann bauen!«
»Dafür reicht die Schneedecke noch nicht«, wandte Peter ein. Doch die anderen waren bereits nach draußen gestürmt. Henrik eilte zu seinem Bulli und schaltete das Radio ein. Last Christmas ertönte aus den Lautsprechern. Sie fassten einander an den Schultern und stapften wie ein bunter Lindwurm durch die von Minute zu Minute dicker werdende Schneeschicht.
»Last Christmas I gave you my heart«, sang Tascha lauthals, löste sich abrupt aus der Polonaise, bückte sich. Der erste Schneeball traf Klaus am Oberarm. Diese Schmack konnte er nicht auf sich sitzen lassen, er formte ebenfalls einen Schneeball. Innerhalb von Sekunden war eine muntere Schneeballschlacht im Gange.
»Sehen wir uns hier im nächsten Jahr wieder?«, fragte Tascha, als sie nach ein paar Minuten atemlos nebeneinanderstanden.
»Darüber würde ich mich sehr freuen«, antwortete Klaus und reichte ihr einen Schneeball.
Tascha behielt ihn einen Augenblick in der Hand, fixierte ihr Ziel und traf den verdutzten Mike mitten auf die Brust. »Das war super Teamarbeit«, sagte sie grinsend zu Klaus. Der reichte ihr einen weiteren Schneeball.
»Freunde?«, fragte er.
»Klar doch. Freunde fürs Leben.« Tascha nahm ihr nächstes Opfer ins Visier.
»Attacke! Auf die Freundschaft«, rief sie beim Werfen.
»Auf die Freundschaft«, echote Klaus und spürte, wie ihm die Tränen kamen. Aber nicht aus Traurigkeit, sondern weil er so über Tascha und die ausgelassene Bande, die im Schnee herumtollte, lachen musste. Er machte ein paar Schritte zur Seite und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Da spürte er ein Kitzeln auf der Wange, gleichzeitig wurde ihm kalt, als hätte ihm jemand eine Ladung Schnee in den Nacken geschüttet. Empört schnellte er herum, doch es war niemand hinter ihm. Die Freunde hatten sich untergehakt und tanzten zu Rocking around the Christmas Tree um den kleinen Weihnachtsbaum, den Peter und Anke am Morgen aufgestellt hatten.
»Marga«, sagte er vorwurfsvoll.
In seinen Ohren erklang trotz der lauten Musik ein Lachen. Eins das ihm seit mehr als vier Jahrzehnten so vertraut war.
»Frohe Weihnachten, meine Liebste«, flüsterte er und blickte kurz in den Himmel.
Dann eilte er zurück zu den Freunden, reihte sich in den Kreis ein und tanzte, wie er noch nie zuvor getanzt hatte.

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